Apokalyptische Mittlerwesen

Warum der Glaube an Engel nie ganz aus dem Christentum verschwunden ist

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Der Erzengel Gabriel verkündet Maria, dass sie einen Sohn empfangen werde. Darstellung in der Euphrasius-Basilika in Kroatien. Foto: kna
veröffentlicht am 07.12.2016
Lesezeit: ungefähr 6 Minuten

Engel spielen gerade in der Advents- und Weihnachtszeit eine große Rolle. Ein Engel kündigt Maria die Geburt Jesu an und Engel verkünden den Hirten die Frohe Botschaft.

von Johann Evangelist Hafner

Wenn der eine Gott die Quelle allen Heils und allen Heilswissens ist, dann bleibt Zwischenwesen nur die Aufgabe, das Heil zu vermitteln. „Vermitteln“ kann darin bestehen, dass Mittlerwesen das Heil ankündigen oder gar selbst heilen bzw. retten. Aber das Christentum verkündigt seinen Gott zugleich als den hohen, über den Himmeln thronenden und als den nahen Gott. So sehr hat dieser Gott die Welt geliebt, dass sein Wort Mensch wird, dass er seinen einzigen Sohn hingibt, damit Licht in die Welt kommt und die Welt gerettet wird (vgl. Joh 3,14-18).

Der Sohn übernimmt damit alle Aufgaben, die ein Mittlerwesen haben kann und die in den Texten des Alten Testaments von Engeln erfüllt wurden: Heilen, Verkündigen, Mahnen, Retten, Loben. Ja, der Sohn überbietet alle bisherigen Mittlerwesen durch seinen Anspruch, Sünden vergeben zu können. In seinem Windschatten sind Engel im Christentum funktionslos geworden.

Und doch ist der Engelsglaube nie verschwunden. Das liegt daran, dass die Engel gerade in ihrer Funktionslosigkeit, sozusagen als Gottes freie Zutat, zum festen Begriffs- und Bildbestand des christlichen Glaubens gehören. Die Evangelien platzieren Engelsgestalten in den zentralen Szenen von der Geburt bis zur Auferstehung Christi und greifen dabei auf die Engelsvorstellungen der hebräischen Bibel zurück: Matthäus und Lukas lassen in ihren Verkündigungsgeschichten den aus Genesis und Exodus bekannten „Engel des Herrn“ auftreten. Bei Lukas trägt er den Namen „Gabriel“, eine Figur, die nur beiläufig im Danielbuch erwähnt wird, hier aber zur zentralen Botenfigur wird.

Aus verschiedenen Psalmen waren die „Heerscharen“ bekannt; sie dienen in der Geburtsszene dazu, das Lob des Erlösers zu singen. Am augenfälligsten erscheinen die Engel in den Grabesgeschichten. Auch wenn die Evangelien in legendarischen Stoffen stark voneinander abweichen, in diesem Detail stimmen alle vier überein: Engel in der Gestalt eines Mannes (bzw. zweier Männer) in weißen Gewändern konfrontieren Grabesbesucher mit der Botschaft, dass der Tote nicht mehr hier sei. Diese Art der Angelophanie ist ein Zitat aus Daniel 10, wo dem Propheten eine blitzleuchtende Männergestalt im Leinengewand erscheint. Insgesamt sind die Evangelisten relativ sparsam mit der Verwendung von Engeln.

In Jesu Predigt- und Wunderwirken kommen nur Dämonen vor, von der Passionsgeschichte sind Engel geradezu ausgeschlossen. Diese Zurückhaltung ändert sich mit dem Engelstext des Neuen Testaments, der „Offenbarung des Johannes“. Hier explodiert das Spektrum der Engelsgestalten geradezu. Diese spätere und von den Evangelien unabhängige Schrift bedient sich ausgiebig bei den Visionsberichten der großen Propheten (Jes 6; Ez 1,10), aber auch im Bilderreichtum der frühjüdischen Apokalyptik (Dan, 1 Hen, Jub, Test12). Das junge Christentum schlägt damit einen anderen Weg ein als das zeitgleich entstehende rabbinische Judentum, welches im zweiten Jahrhundert ganz bewusst – wahrscheinlich in Entgegensetzung zur Weltende-­Erwartung der Christen – die apokalyptische Rhetorik mied.

Das Genre der Apokalypsen war seit Jahrhunderten bekannt und beliebt, weil in diesen Erzählungen Einblicke in die himmlischen Welten und vor allem in die Endphase der Völkergeschichte geboten wurden. Christliche Apokalypsen wollten vor allem die wenigen Andeutungen vom Weltende entfalten, die aus den synoptischen Evangelien oder einigen Paulusbriefen bekannt waren. Wer mit dem baldigen Anbruch einer anderen Welt rechnet, der rechnet auch mit den Wesen, die aus dieser anderen Welt in das Diesseits eindringen.

Die Johannesapokalypse breitet ein ganzes Tableau von Engelsfiguren aus: Es gibt einen Offenbarungsengel, der durch die Visionen führt; Gemeindeengel werden als eine Art Stellvertreter oder Schutzgeist christlicher Ortskirchen adressiert; sieben Geister und vier cherubengleiche Lebewesen umgeben Gott und das Lamm; 10 000 mal 10 000 Engel singen ihm Lobpreis; Wind­engel, Posaunenengel, ein Mühlsteinengel und Schalenengel lösen Katastrophen aus; Michael und sein Engelsheer bekämpfen den Drachen; immer wieder leiten Verkündigungsengel eine neue Stufe der Endzeit ein, bis am Schluss ein Engelschor die Hochzeit des Lammes besingt und eine von zwölf Engeln bewachte Stadt aus dem Himmel herabschwebt. Die Johannesapokalypse nennt insgesamt 23 verschiedene Funktionsgruppen von Engeln.

Zur vollen Entfaltung reift die Engelspekulation im Mittelalter. Obwohl die Engelstraktate des Mittelalters zu riesigen Konvoluten anwuchsen – beispielsweise Francisco Suarez’ († 1617) „De Angelis“ auf 1 000 Seiten! – hat sich das offizielle Lehramt nur wenig damit befasst und ist dementsprechend nur wenig festgelegt worden.

Indirekt kommen Engel im Glaubensbekenntnis von Nicäa (325) vor: „Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allherrscher, den Schöpfer alles Sichtbaren und [alles] Unsichtbaren.“ Letzteres wurde als Umschreibung der himmlischen Welten verstanden, die über der irdischen Welt bestehen und in denen die geistigen Wesen wohnen.

Bereits der Kolosserbrief bringt die Himmel und die Engel in einen engen Zusammenhang: „Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare [„ta horata kai ta aorata“], Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten“ (Kol 1,16). Damit war ausgesagt, dass Gott die Engelwelten erschaffen und nicht emaniert hat. Wäre Letzteres der Fall, wären die Engel unmittelbare Hervorgänge aus Gott, ein Status, der nur dem Sohn und dem Heiligen Geist zukommt.

Das einzige Dogma, welches direkt auf die Engel Bezug nimmt, ist das des IV. Lateranum (1215), welches die Formulierung des Nicänums erweitert: Gott schuf „vom Beginn der Zeit an eine doppelte Schöpfung, zugleich vom Nichts aus die geistige und die körperliche, das heißt die angelische und die irdische [Schöpfung], die gewissermaßen eine gemeinsame [Schöpfung] aus Geist und Körper ist“ (DH 800, eigene Übers.) Die Formulierung „vom Nichts aus erschuf er“ schließt aus, dass es vor der Schöpfung eine Ursubstanz gegeben habe. Das ist gegen die vermeintliche Lehre der Katharer von der Ewigkeit des Teufels gerichtet, wonach zwischen Gott und der vom Teufel erschaffenen Welt (inklusive der menschlichen Körper) eine Kette von Äonen (Geistwesen) steht, zu der Christus als oberster Äon gehört und bestimmte menschliche Seelen als untere Äonen gehörten. Aus dieser Festlegung, dass es außer Gott nichts Ewiges gibt, das heißt, dass Engel und Teufel erschaffen sein müssen, ergab sich die Frage nach dem Wann. Aus der Bibel ist sicher, dass ein Cherub das Paradies nach dem Fall der Menschen bewacht. Einige Theologen sehen die erste Erwähnung von Engeln noch früher, und zwar in der Abschlussformel des ersten Schöpfungsberichts „So wurden Himmel und Erde vollendet und ihr ganzes Gefüge (zaba)“ (Gen 2,1). Das lässt sich auch übersetzen als „und die ganze Schar“.

Weil dieses Wort auch für das Himmelsheer verwendet wird und dieses wiederum die himmlische Ratsversammlung der Engel bezeichnet (vgl. 1 Kön 22,19), lag die Assoziation nahe, dass zaba‘ aus Gen 2 das Heer des Jhwh zeba‘ot eint. Offensichtlich setzt die Bibel die Engel voraus, aber sie berichtet nicht, wann und wie sie erschaffen wurden.

Aber können sie vergessen worden sein, wenn der Schöpfungsbericht alle Bereiche des Geschöpflichen (Himmel, Sterne, Erde, Meer, Land, Tiere …) minutiös abschreitet? Die Kirchenväter haben daher im ersten Kapitel nach Hinweisen auf ihre Erschaffung gesucht. Der prominenteste Vorschlag kommt von Augustinus. Er argumentiert, dass mit dem „Es werde Licht“ aus Gen 1,14 weder das natürliche Licht des vierten Tages (Sonne, Mond und Sterne) noch das Licht des Gottesgeistes (gegenüber der Dunkelheit über den Wassern) gemeint ist, sondern dass hier von den Engeln die Rede ist. Sie sind das Licht, das Gott „im Anfang“ erschafft und sogleich in Licht und Finsternis scheidet.

(Der Autos Johann Evangelist Hafner ist Professor für Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt Christentum an der Universität Potsdam.)

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