19.05.2017

Durch Gottes Gnade vom Alkohol erlöst

Kurt Guss arbeitet heute als Suchtberater in einer eigenen Praxis.

Bühne/Hardehausen. Sein erstes Leben hatte der Wissenschaftler Kurt Guss dem Alkohol geweiht. Erst als „Professor Schluck“ ganz am Ende ist, erkennt er seine Berufung: Heute zeigt er Abhängigen den Weg aus der Sucht. Die Geschichte einer Umkehr.

von Marilis Kurz-Lunkenbein

Am Küchentisch sitzt ein trauriges Häuflein Elend und sieht, wie sich die Sonne im Bühner Wald ihren Weg durch die Rotbuchen bricht. Das Licht scheint direkt auf jenen verzweifelten Menschen zu fallen. Alles in der Küche ist wie an jedem anderen Morgen, und doch ist alles ganz anders an diesem 6. Januar 1992. „Dieses Sonnenlicht war für mich das Licht einer Erleuchtung und ich wusste plötzlich: Es kann mir nichts passieren!“, sagt der Professor.

Was soll auch passieren, wenn die Sonne irgendwo in eine Küche scheint? So können wohl nur Menschen fragen, die nicht von irgendwem oder irgendetwas abhängig sind. „Für einen Alkoholiker aber ist das Vertrauen darauf, dass ihm ohne Alkohol nichts passieren kann, die wichtigste Voraussetzung für eine dauerhafte Genesung.“ Prof. Dr. mult. Kurt Guss hat seit seiner Erleuchtung am 6. Januar 1992 nie mehr einen Tropfen Alkohol angerührt. „Ich feiere diesen Tag jedes Jahr. Er ist mein Geburtstag, der erste Tag in meinem neuen Leben, meine Erlösung, meine Wiedergeburt.“

Das alte Leben des Professors war eine einzige Katastrophe. Dennoch: „Wer einen Blick auf meine akademische Laufbahn wirft, kommt niemals auf die Idee, die Chronik eines Säuferlebens in Händen zu halten“, sagt er und zählt auf: Diplom in Psychologie (Münster 1968), Erstes Staatsexamen für das Lehramt (Münster 1970), Promotion zum Doktor der Philosophie (Münster 1972), Habilitation in Psychologie (Duisburg 1981), Ernennung zum Professor für Psychologie und Soziologie (Mannheim 1983), Promotion zum Doktor der Erziehungswissenschaft (Dortmund 1988), Promotion zum Doktor der Rechtswissenschaft (Gießen 2002).

Die akademische Karriere des Kurt Guss passt so gar nicht zu der landläufigen Vorstellung, die man vom Leben eines Alkoholikers hat. Seinen akademischen Graden sieht man nicht an, dass er die meisten Prüfungen mit mindestens zwei Promille Alkohol im Blut bestanden hat.

Doch der Reihe nach. Als Kurt am 14. November 1943 im thüringischen Sondershausen geboren wird, ist sein Vater schon zwei Monate tot, als Kriegsfreiwilliger den „Heldentod“ gestorben. Der kleine Junge spürt bald, „dass ich irgendwie anders war als alle anderen“, dass er sich aber „danach sehnte, so zu sein wie alle anderen auch“. So eine Störung würde man heute wohl Hochbegabung nennen.

Bei seinem einzigen Besuch im Kindergarten erlebt Kurt Guss zum ersten Mal die durchsichtige, aber unüberwindbare Wand, die ihn von anderen Menschen trennt. Als der Lärm der fremden Kinder über den Kleinen hereinbricht, klammert er sich starr vor Schreck fest an seine Mutter und geht nie wieder dorthin.

Die Familie zieht ins Ruhrgebiet. Kurt ist begeistert von Jesus Christus, baut kleine Altäre, schreibt Gebete und will einen Fanklub des Herrn gründen. „Flausen“, die ihm bald durch eine Lehrerin ausgetrieben werden. Mit zehn Jahren geht der Junge in Recklinghausen-Süd zur Erstkommunion. Danach plagt er sich mit der ungeliebten Ohrenbeichte und seiner Enttäuschung, „dem lieben Gott gegenüber so undankbar zu sein“.

1953 besteht er die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium in Herne. Neun Jahre später stößt Kurt mit seiner Mutter auf sein Abitur an. Mutter und Sohn sind zu der Zeit bereits Alkoholiker: „Wir konnten beide nicht mehr ohne Alkohol.“ Er weiß heute noch genau, wie das erste Glas Bier auf ihn gewirkt hat. „Der Alkohol gab mir schlagartig das ersehnte Gefühl, dazuzugehören.“ Damals in der Oberstufe des Gymnasiums hebt sich endlich der gläserne Vorhang, der ihn von den anderen getrennt hatte. Im Alkohol lösen sich seine Hemmungen und Ängste.

Nach dem Abitur studiert Kurt in Münster und erwirbt dort seinen ersten Doktorhut. In Münster trifft er auch auf Ursula, seine spätere Frau. „Ulla ist eine der vielen unverdienten Gaben, die mir ein gütiges Schicksal und ein nachsichtiger Gott anvertraut haben“, sagt ihr Mann heute.

In einer akademischen Jagdverbindung lernt er, nach Gutsherrenart zu saufen. Bier und Doppelwacholder werden seine Begleiter. Ob beim Suff der Grünröcke oder später bei einer schlagenden Verbindung in Dortmund: Wo Alkohol im Spiel ist, steht Guss in der ersten Reihe. Er ficht sechs scharfe Mensuren und bringt es fast zum Alten Herrn. Doch kurz zuvor wird er wegen übermäßiger Trinkfreudigkeit aus der Burschenschaft ausgeschlossen!

Sein gesamtes Leben wird inzwischen mehr und mehr vom Alkohol bestimmt. Bei seinem Habilitationsvortrag leidet er an den Folgen einer Alkoholvergiftung und kann sich nur mit einem Mix aus Orangensaft und Cognac auf den Beinen halten.

Sollte er etwa alkoholabhängig sein? Nein, ER doch nicht! Seine zweite Doktorarbeit schreibt Guss in drei Monaten, nur um zu beweisen, dass er kein Alkoholiker ist. „Diese drei Monate waren die längste Saufpause, die ich je eingelegt habe.“

Später ist der Professor mit seiner Frau ins ostwestfälische Dorf Bühne gezogen, wo sie ein Haus gebaut haben – in idyllischer Lage am Dorfrand mit freiem Blick in den Wald, wo sich Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen. Die obere Etage war für Kurts geliebte Mutti gedacht, unten lebt das Ehepaar zwar in einer Wohnung, aber nur selten zusammen. ­Ulla verbringt viel Zeit in Lienen bei ihrer kranken Mutter, Kurt ist meist an der Hochschule in Mannheim.

In Bühne ist „Professor Schluck“, wie er genannt wird, als Alkoholiker bekannt. Nur der Akademiker selbst will es nicht wahrhaben, ist mit Blindheit geschlagen. Gründe zu trinken sucht und findet er reichlich bei den Jägern. Doch auch dort begegnet man ihm mit Vorsicht, denn der Alkoholiker mit dem Jagdgewehr in der Hand ist unberechenbar.

Am Ende hängen Freiheit, Führerschein, Finanzen und Familie am seidenen Faden. Wann kam bei ihm die Wende, was hat ihn zur Umkehr veranlasst? War es der frühe Tod der geliebten Mutti, der frühe Tod seines besten Freundes Fide? Beide waren Alkoholiker und haben sich das Leben genommen. Waren es seine Aufenthalte in Ausnüchterungszellen?

Nein, es ist ein eher unbedeutendes Ereignis bei einer Vernissage in Herdecke. „Ich hatte mir geschworen, an diesem Tag auf keinen Fall Alkohol zu trinken.“ Und dann? Am Büfett nimmt sich Kurt einen Drink und trinkt das Glas in einem Zug leer! Sofort stellt sich das gewohnte Verlangen nach mehr, nach viel, viel mehr ein. Draußen aber wartet Ulla schon im Auto, da sie unbedingt noch nach Bühne fahren müssen. „Gottes Gnade hat mich gerettet, denn ich brachte es irgendwie fertig, dass zweite Glas nicht zu trinken.“

Am nächsten Tag klagt er kleinlaut seiner Frau: „Nach dem gestrigen Erlebnis muss ich mich ernsthaft fragen, ob ich nicht am Ende Alkoholiker bin.“ Ulla lässt ihn mit dieser Frage allein. Und Kurt sieht, wie am Waldrand die Sonnenstrahlen durch die Buchen brechen …

Kurt findet den Weg zu den Anonymen Alkoholikern und lernt „zuzugeben, dass ich Alkoholiker bin, zuzugeben, dass ich mein Leben nicht mehr meistern kann, zuzugeben, dass ich schuldig geworden bin, zuzugeben, dass ich meine Mutter im Stich gelassen habe, als sie mich gebraucht hat“. Dieses „Zugeben“ ist der erste und wichtigste Schritt im Programm der Anonymen Alkoholiker.

Vier Jahre nach dem letzten Tropfen Alkohol kommt der Kettenraucher Kurt auf die Idee, auch vom Nikotin zu lassen. Nach kurzer Zeit der Umgewöhnung fühlt er sich frei, gesund und voller Kraft. Als fast Sechzigjähriger schließt der Professor sein drittes Studium, das der Rechtswissenschaft, mit der Promotion zum „Dr. jur.“ ab. Bevor er ins Rigorosum geht, betet er: „Komm bitte mit!“ Diese Bitte an Gott ist für ihn zur guten Gewohnheit geworden – bis heute. Sein Gottvertrauen gibt ihm das Gefühl, „beschützt und behütet zu werden“.

Oft hat sich Kurt Guss gefragt: „Warum musste ich so entsetzlich viel falsch machen?“ Die Antwort gibt er selbst: „Wie könnte ich Menschen den Weg aus dem Tal des Säuferelends zeigen, wenn ich diesen Weg nicht selbst gegangen wäre? Die Gnade Gottes, die ich erfahren durfte, kann ich nicht weitergeben. Was ich aber weitergeben kann, ist meine persönliche Erfahrung.“

Heute schreibt der „trockene“ Alkoholiker Bücher, Aufsätze und Artikel über Sucht und Abhängigkeit. Schonungslos geht er mit sich selbst ins Gericht, will nichts beschönigen, verniedlichen. „Leer gesoffen“* heißt beispielsweise ein humorvoll geschriebenes und bewegendes Buch, in dem er seinen Weg in die Abhängigkeit, aber auch den Weg aus der Abhängigkeit schildert. Damit will er allen Menschen Hoffnung machen, die sich mit den Themen Alkoholismus und Sucht beschäftigen. Die einzelnen Kapitel werden mit Zitaten aus der Heiligen Schrift eingeleitet, denen sich persönliche Erlebnisse und fachliche Kommentare anschließen. Das Buch trägt den Untertitel „Bekenntnisse eines geretteten ­Alkoholikers“.

In seinen Seminaren, die er im Kloster Hardehausen oder im christlichen Bildungswerk „Die Hegge“ veranstaltet, begleiten ihn die Lieder seiner Lieblingssänger Johnny Cash („I Came To Believe“) und Kris Kristofferson („Why me Lord?“), denen ebenfalls die Gnade der Genesung zuteil geworden ist.

Ja, und dann gibt es noch den „Dromedary Club e. V.“, den der Professor für Menschen gegründet hat, die Täuschung, Angst und Abhängigkeit gegen Wahrheit, Freiheit und Liebe eintauschen wollen. „Die Freundschaft mit Gott gehört zu den Maximen des Klubs und Dromedary steht für Drogen, Medikamente, Alkohol, Rauchen und all die anderen Irrwege von uns Menschen (y).“

In seiner Bühner Praxis für Psychotherapie arbeitet er mit Süchtigen und zeigt ihnen Wege für den Ausstieg, aber: „Heilen kann nur Gott.“ In der von ihm gegründeten „Ostwestfalen-Akademie e. V.“ bildet er in Zusammenarbeit mit der „Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb“ Suchttherapeuten, psychologische Berater und Heilpraktiker für Psychotherapie aus. Seine Klubmeetings enden stets mit dem Gebet: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Der 73-jährige Professor sagt heute, er sei mit sich und seinem Leben nicht unzufrieden, er müsse aber noch sehr viel lernen, bis der liebe Gott endlich sagen wird: „Kann so bleiben!“*Leer gesoffen, Bekenntnisse eines geretteten Alkoholikers, Bonifatius, 200 Seiten, 13,90 Euro

0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anschauen