26.04.2018

Im Krieg Aussöhnung vorbereiten

Aristarkh mit einem Foto seines Vaters. Er kämpfte als Freiwilliger in ukrainischen Verbänden; nach Monaten erhielt die Familie die Nachricht, dass er bei den Gefechten um die Stadt Lugansk gefallen sei. Foto: Nowak

Am Sonntag wurde die diesjährige Renovabis-Pfingst­aktion eröffnet. Die Reportage zeigt, wie das katholische Hilfswerk für Osteuropa in der Ukraine arbeitet.

von Markus Nowak

Auf ihrem Facebook-Profil postet Maria Chebotnikowa immer wieder bunte Bilder. Nicht nur „Selfies“ oder vom Spaziergang mit ihrem Hund Venya durch Kramatorsk, einer grauen Industriestadt im Osten der Ukraine, für die sie viele „Likes“ bekommt. Auch Fotos von ihrer Arbeit sind darunter. Darauf spielt „Mascha“ mit einer Gruppe von Kindern oder sie steht vor einer Klasse und hält einen Vortrag. Als Psychologin arbeitet die 24-Jährige insbesondere mit jungen Menschen. „Viele von ihnen sind sehr ängstlich und haben Schlafprobleme“, berichtet sie. „Kein Wunder, sie leben in permanenter Gefahr.“

Auch die junge Psychologin begibt sich in Gefahr, wenn sie zur Arbeit geht. Drei- bis viermal in der Woche fährt „Mascha“ mit Sozialarbeitern der Caritas Krematorsk in die „buferowa zona“. Gemeint ist die Pufferzone an der Grenze zwischen der Ukraine und den Separatistengebieten im Donbass, wo der Zutritt nur mit speziellen Ausweisen erfolgt und „Mascha“ sicherheitshalber kugelsichere Westen trägt. Während das Team humanitäre Güter oder Hygieneartikel und im Winter Heizmaterial verteilt, leitet Chebotnikowa vor Ort Workshops mit Kindern. Darin geht es um den Umgang mit der permanenten Angst. Mit den Erwachsenen führt sie Gespräche unter vier Augen. Scham sei dabei immer wieder Thema. „Scham, dass es zu so einem Konflikt hier gekommen ist.“

„Manchmal ist es auch für mich schwer rauszufahren, aber ich möchte helfen“, sagt die junge Psychologin. „Ich will, dass es den Menschen dort gut geht“, sagt sie. Klar, Frieden sei jetzt das Wichtig-
ste. Das liege zwar nicht in ihrer Hand, „aber den Menschen zumindest helfen, mit der Situation besser auszukommen“, ergänzt sie. „Und wer weiß, vielleicht kommt es irgendwann wieder zur Versöhnung.“ Frieden und Versöhnung, davon sei die Ukraine noch weit entfernt, urteilt Dmytro Sherengowsky. Der promovierte Politikwissenschaftler unterrichtet an der katholischen Universität im westukrainischen Lemberg.

Ein langer Weg zur Befriedung

Auch wenn sich die Konflikt­parteien bald an einen Tisch setzen würden und die Waffen schwiegen, sei es noch ein langer Weg zur Befriedung. „Ein Shakehands bedeutet noch keinen langfristigen Frieden und erst recht keine Aussöhnung“, sagt der Politikwissenschaftler. „Dazu gehören mehrere Faktoren wie bessere Lebensverhältnisse, Arbeitsplätze und auch bessere soziale Sicherung.“ Nicht nur die Propaganda, die auf beiden Seiten den Konflikt anheize und die Gesellschaft. Die Kirche habe hier eine Brücken­funktion, sagt Sherengowsky. „Ihre Rolle könnte es sein, beim Überwinden des erlebten Dramas zu helfen und die Menschen mit der Gesellschaft zu versöhnen.“

Was der Politikwissenschaftler Sherengowsky in Lemberg vorschlägt, setzt derweil rund 1 000 Kilometer östlich in Charkiw die Caritas bereits um. Stanislav Szyrokoradiuk ist römisch-katholischer Bischof der Diözese Charkiw-­Saporischschja, die flächenmäßig fast so groß ist wie Großbritannien.

Er ließ seinen Worten Taten folgen und neben der Bischofskirche mehrere Bau­container aufstellen. Sie dienen als Anlaufstelle der Caritas im Bistum: Von der Suppenküche über medizinische Hilfe bis hin zur Lebensmittel­ausgabe finden Flüchtlinge aus der Ostukraine und Bedürftige hier Unterstützung.

Die Kirche müsse da sein für die Menschen, sagt der 61-jährige Franziskaner. „Wir können nicht Barmherzigkeit predigen und dann die Menschen mit leeren Händen empfangen“, glaubt Bischof Szyrokoradiuk. Die karitative Hilfe sei eine Brücke zu den Menschen, und als Brücke sehe er auch die Kirche in jenem kriegerischen Konflikt in der Ost­ukraine. Zwar habe die Kirche nur beschränkten Einfluss auf die Konfliktparteien. Aber sie könne jetzt schon zur Versöhnung beitragen, glaubt er. So gebe es in seinen Gemeinden regelmäßig ein Requiem und ein Gebet für alle, die in dem Ostukrainekonflikt getötet wurden. „Da gibt es kein ‚uns‘ und ‚ihr‘. Alle Gefallenen waren Menschen“, sagt der Franziskaner. Die Kirche denke an sie, das sei ein Element der Versöhnung, ist er sich sicher.

Vorerst keine Perspektive zu versöhntem MiteinanderVon Versöhnung, Frieden und ihrer alten Heimat im Donbass träumt die 26-jährige Daria immer wieder. „Dascha“, wie sie von ihrer Umgebung genannt wird, lebt mit ihrem zweieinhalbjährigen Sohn am Rande von Charkiw. Hier, unweit des Flughafens der 1,4-Millionen-Einwohner-­Stadt, steht seit drei Jahren ein Containerdorf. „Es sollte ein Transit-Ort werden, aber wir sind noch immer hier“, sagt sie. Denn seit drei Jahren bewohnen sie und ihr Sohn ein kleines Zimmer, der Vater hat sich längst aus dem Staub gemacht. Nebenan wohnt ihre Schwester Natasha mit ihren beiden Kindern. „Wir müssen uns die Toiletten und die Küche mit einem Dutzend anderer Leute teilen“, beklagt die 26-Jährige. 30 Bewohner sind an einem Flur untergebracht, 300 insgesamt in der Siedlung. Die Kinder auf dem Spielplatz vor den Containern lachen und durchbrechen damit die trist-traurige Atmosphäre. „Kinder gewöhnen sich schnell an die Umgebung“, beobachtet die 26-jährige Mutter. „Aber mein Sohn kennt nichts anderes als dieses Camp hier.“ Gerne würde sie wieder als Englischlehrerin arbeiten, wie einst in ihrer Heimatstadt Lugansk. „Ich würde auch gerne wieder in meine Wohnung dorthin zurück. Es ist aber zu gefährlich für uns.“

Die Kriegsgefahr war es auch, die Aleksander Borowskich nach Charkiw brachte. „In Lugansk hörte ich die Bomben und so bin ich weg“, sagt der 40-Jährige. Ursprünglich sollte er nur zwei Wochen bleiben, daher hatte er kaum Gepäck bei sich. Daraus sind nun vier Jahre geworden. Borowskich ist seit einigen Wochen regelmäßig bei der Caritas des griechisch-katholischen Bistums in Charkiw. Nicht weil er humanitäre Güter braucht, die er hier auch abholen könnte. Vielmehr will er sich fortbilden. Für Kriegsflüchtlinge nämlich bietet die Caritas Kurse zur Existenzgründung an und schuf für Selbstständige sogenannte Co-Working-Arbeitsplätze. Der 40-jährige Borowskich hatte mehrere Jobs in Charkiw ausprobiert und hofft nun, durch die richtigen Ratschläge, sein Geschäft mit Computerreparaturen voranzubringen. „Es ist nicht leicht, aber ich habe mich mit meinem Schicksal versöhnt“, sagt er.

Viola sitzt in einer kaum möblierten Dreizimmerwohnung am Stadtrand von Charkiw und denkt nach. In den Ecken liegen Säcke mit Altkleidern, die sie u. a. von der Caritas erhalten hat. An einer Wand im Wohnzimmer ist eine Art kleiner Hausaltar mit Ikone, einem Familienbild und einem Foto eines Mannes mit vielen Sportabzeichen. „Es ist mein Mann, er ist spurlos verschwunden und monatelang haben wir nichts von ihm gehört“, sagt Viola mit trauriger Stimme, den Tränen nahe. Als der Konflikt in ihrer Heimatstadt Lugansk begann, kämpfte der 45-Jährige als Freiwilliger in ukrainischen Verbänden.

Nach Verlust mit eigenem Leben versöhnt?Nach neun Monaten erhielt die 41-jährige Familienmutter die Nachricht, ihr Mann sei bei den schweren Gefechten um Lugansk am 24. August 2014 gefallen. Begraben wurde er provisorisch irgendwo im Donezker Gebiet. Die Nichtregierungsorganisation „Schwarze Tulpe“ fand sein Grab und ließ den Leichnam exhumieren, Viola konnte ihren Mann in Kiew bestatten. „Das war notwendig, damit ich beruhigt bin. Denn als das Grab verschlossen war, wusste ich, wo er wirklich ist“, erzählt sie. Damit geht vielleicht auch eine monatelange Odyssee für die Familie zu Ende, Flucht nach Kiew und zwischenzeitlich in andere Städte, schließlich nach Charkiw. Fünf Mal mussten die Kinder Aristarkh (10) und Aglaja (11) die Schule wechseln. „Meine Perspektive ist nun, dem Leben eine neue Richtung zu geben“, sagt die 41-jährige Mutter.

Dass Viola, nachdem ihr Mann im Krieg getötet worden ist, von neuen Perspektiven spricht, hat auch mit Psychologen wie Swetlana Os­tapt­sowa zu tun. Als Therapeutin der Caritas in Charkiw hat sie es oft mit Traumapatienten zu tun, die den Krieg im Donbass erlebt haben. Diese haben, wie Viola, oft sehr nahestehende Menschen verloren und vermissen ihr Zuhause. „Sie leben in der Überzeugung, dass alles in ihrem alten Leben besser war“, erklärt die Psychologin. Ihr Therapieziel sei es, die Patienten mit ihrer schwierigen Lebenssituation zu versöhnen. „Bloß müssen diese Menschen oft von vorne anfangen und sich etwas Neues aufbauen.“ Beim Aufbau mitmachen will auch Mykola Dorokhow. Der 26-Jährige stammt wie die Psychologin Maria Chebotnikowa aus Kramatorsk und hat miterlebt, wie die Separatisten seine Stadt besetzten und wie sie wieder von der ukrainischen Armee zurückerobert wurde. „Wir haben jetzt einen eingefrorenen Konflikt“, glaubt Dorokhow. Den Willen der Verantwortlichen an einer friedlichen Lösung zieht er in Zweifel. Also packte er im Rahmen des Freiwilligenprojektes „Ukra­ine gemeinsam aufbauen“ selbst an und setzte im Krieg zerstörte Häuser wieder instand. Es dürfe nicht nur um den Aufbau von Häusern gehen, sondern auch von Menschen und der Gesellschaft, dachte sich Mykola. Mit ein paar Freunden gründete er „Wilna Chata“, zu Deutsch „Hütte der Freiheit“. Das alternative Kulturzentrum bietet Bildungsangebote wie Workshops und diverse Freizeitangebote für Jugendliche, Raum für Diskussion und Konzerte. „Nur 90 Kilometer von hier kämpfen Soldaten für unsere Sicherheit“, sagt Mykola.

„Und wir hier arbeiten an unserer Zukunft.“ Damit steht er nicht allein. Denn viele Menschen in der Ukraine arbeiten an einem besseren Morgen und an der Aussöhnung, obwohl der Konflikt im Osten weitergeht.

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