29.01.2016

Ist das nicht der Sohn Josefs?

Ist das nicht..? Foto: misterQM/photocase

Glaube als bloße Gewohnheit kann den Zugang zu Jesus als Sohn Gottes erschweren.

Mit einer programmatischen Rede in seiner Heimat, in der Synagoge von Nazaret, beginnt Jesus nach dem Evangelisten Lukas sein öffentliches Auftreten: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“

Mit einem Zitat aus dem Propheten Jesaja umreißt Jesus das Ziel seiner Sendung und stellt sich selbst vor als den Gesandten, als Messias des Herrn. Die Reaktion seiner Hörer ist gespalten. Auf der einen Seite Begeisterung, ungläubiges Staunen. Auf der anderen Seite Vorbehalte, ja Ablehnung: „Ist das nicht der Sohn Josefs?“

Die Leute kennen ihn von klein auf. Das hätte eine Chance sein können, ihm Vertrauen entgegenzubringen. Und außerdem haben sie ihn jetzt erlebt, seine beeindruckende Rede gehört. Aber sie trauen ihm nicht, sondern bleiben bei dem stehen, was und wie sie ihn kennen oder zu kennen meinen. Und sie trauen Gott nichts zu, zumindest nicht, dass er bei ihnen in der Provinz, in ihrem kleinen Ort Nazaret wirkt. Enttäuscht resümiert Jesus: „Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt.“

„Christentum, ist das nicht der Glaube, den wir kennen?“ 2000 Jahre Christentum haben im sogenannten christlichen Abendland ihre Spuren hinterlassen: viel Gutes, aber auch eine Menge an Gewöhnung. Man scheint den christlichen Glauben zu kennen und hat ein fest umrissenes Bild von ihm: zur Kirche gehen eher ältere Leute; die christlichen Gemeinden sind traditionell und bürgerlich; der Glaube hat mit dem Alltag wenig zu tun; Glaube und Spaß, Glaube und selbstbestimmtes Leben scheinen sich auszuschließen.

So oder so ähnlich sieht wohl das Bild aus, das sich viele Zeitgenossen vom christlichen Glauben machen. Wie bei Jesus in der Synagoge in Nazaret könnte die Vertrautheit, die Kenntnis von 2000 Jahren Christentumsgeschichte ein Vorteil sein für ein tieferes Verständnis. Für viele Zeitgenossen, wie für die Zuhörer Jesu in Nazaret, verschließt das vorgeprägte Bild eine neue, unverstellte, offene und freie Begegnung. Was soll aus Nazaret schon Gutes kommen? Was soll aus dem Christentum schon Gutes kommen?

Manchmal kann ein anderer, ein fremder Blick hilfreich sein. In seinem jüngsten Buch „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“ betrachtet Navid Kermani, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und muslimischer Gläubiger mit Respekt, großer Hingabe und Neugierde bekannte und weniger bekannte Darstellungen christlicher Kunst. Und er entdeckt Details, Perspektiven und Zusammenhänge, die mir nie aufgefallen wären, weil ich an die Motive wie die Geburt Christi, die Kreuzigung, die Auferstehung, die Gottesmutter Maria schon so lange gewöhnt bin. Die Beobachtungen und neuen Einsichten Kermanis können verstören und Widerspruch oder zumindest Einwände hervorrufen. Sie können aber auch neugierig machen und ein tieferes Verständnis meines christlichen Glaubens wecken.

Georg Kersting

Pfarrer und Leiter des Pastoralverbundes Bad Lippspringe-Schlangen.

0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anschauen