02.12.2016

Von Toleranz und Respekt

Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sprach auf Einladung der Katholischen Erwachsenen- und Familienbildung im Bielefelder Westen über das Verhältnis von Kirche und Staat.

Bielefeld (jon). Ein energisches Plädoyer für Toleranz als Ausdruck des Respektes gegenüber dem anderen hat der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in der Heilig-Geist-Kirche in Bielefeld gehalten. Auf Einladung der Katholischen Erwachsenen- und Familienbildung im Bielefelder Westen sprach er unter der Fragestellung „Privatsache Religion?“ über das Verhältnis von Kirche und Staat in einer säkularisierten Gesellschaft.

Thierse widersprach dem in westlichen Gesellschaften verbreiteten Vorurteil, dass eine Gesellschaft umso säkularer werde, je moderner sie sei. „Das war eine beinahe selbst religiöse Überzeugung“, sagte Thierse. „Aber dieser Glaube ist erschüttert. Religion ist von überraschender Vitalität. Das gilt auch für das globale Christentum, das weltweit besonders intensiver Verfolgung ausgesetzt ist. Man muss nicht verfolgen, was abstirbt.“

Wolfgang Thierse betonte, der religiöse Mensch sei nicht unmoderner als der nicht religiöse. Die deutsche Gesellschaft sei auch keine säkulare Gesellschaft, sondern eine der religiösen Vielfalt. Diese Pluralität der verschiedenen Religionen und Weltanschauungen sei eine „anstrengende He­raus­forderung“ für die gesamte Gesellschaft. Um diese He­raus­forderung zu bewältigen, seien Toleranz, Respekt und gegenseitige Anerkennung gefragt, damit der Pluralismus friedlich gelebt werden könne. „Diese Tugenden sind aber wahrlich nicht selbstverständlich“, sagte Thierse.

Manchen erscheine Religion als „gefährliche, demokratiefeindliche Kraft“, vor allem in Bezug auf den militanten Islamismus. 26 Jahre nachdem die Spaltung Europas überwunden worden sei, trete Europa den neuen Herausforderungen unsicher und zerstritten gegenüber. „Wieder stehen wir vor einer dramatischen Wendung der Geschichte, folgenreicher als die Wiedervereinigung.“ Viele Menschen reagierten darauf mit Ängsten, vor allem im Osten des Landes. Deutschland werde aber dauerhaft pluralistischer und widersprüchlicher sein. „Das ist keine Idylle und steckt voller Konflikte“, sagte Thierse. „Aber wie wir damit umgehen, das entscheidet über die Zukunft unserer Freiheit.“

Wolfgang Thierse, der als Katholik neuer Leiter des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie in Tutzing ist, warnte davor, Religion aus der Öffentlichkeit verdrängen zu wollen. Aus Angst vor dem Islam gebe es eine verbreitete Stimmung gegen alle öffentlich sichtbare Religion. Diese Tendenzen seien jedoch gegen das Grundgesetz gerichtet, das Religionsfreiheit ermögliche und ausdrücklich Raum gebe für „starke Überzeugungen“. Dadurch unterscheide sich Deutschland vom Laizismus in Frankreich. In Deutschland lade der Staat seine Bürger ein, aus ihrer Überzeugung heraus zusammenzuwirken. Diese Einladung dürften die Christen nicht ausschlagen, sagte Thierse und zitierte den ehemaligen Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann.“ Wenn verlangt werde, Religion müsse Privatsache sein, „dann sollten Christen, Juden und Muslime sich das nicht gefallen lassen.“ Denn das sei eine Beschneidung der Religionsfreiheit. „Dagegen sich zu wehren, ist eine gemeinsame Aufgabe aller Bürger mit Sinn für Freiheit.“

Thierse betonte, dass es für den Zusammenhalt einer pluralistischen Gesellschaft nicht ausreiche, das Gesetz anzuerkennen. Vielmehr bedürfe es einer gemeinsamen Vorstellung von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, der Würde des Menschen und gegenseitiger Toleranz. Dieses ethische Fundament könne leicht zerstört werden und müsse immer wieder neu erarbeitet werden. „Die Verantwortung dafür tragen alle Bürger.“ Speziell die Christen und die Kirchen ermunterte er, sich selbstbewusst in den Dialog einzubringen, „nicht leisetreterisch und ängstlich“.

Als wichtigstes Fundament bezeichnete Thierse die Toleranz. „Diese ist mehr als eine bloße gnädige herablassende Duldung. Toleranz meint Respekt vor dem anderen.“

Über die Zukunft macht sich Thierse keine Illusionen. „Es wird sehr anstrengend werden. Es geht darum, wechselseitige Zumutungen friedlich zu ertragen und freundlich mit ihnen umzugehen.“

0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anschauen