27.11.2015

Was es den Rattenfängern leicht macht

Lamya Kaddor in Paderborn Foto: Flüter

Paderborn. Am Tag sechs nach den Terrorattentaten von Paris war die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor in Paderborn zu Gast. Die Integrationsagenturen hatten sie schon lange zuvor eingeladen, um mit ihr ein öffentliches Gespräch über die Radikalisierung von Jugendlichen für den „Dschihad“ des IS zu führen. Dass ihr Paderborner Auftritt eine derartige Aktualität erlangen würde, hatte damals niemand voraussehen können.

Lamya Kaddor musste ihren Vortrag für Paderborn wahrscheinlich nicht sehr umschreiben. Lange vor den neuen Attentaten von Paris hat sie die Radikalisierung muslimischer Jugendlicher hellsichtig beschrieben.

Die Muslime wehren sich dagegen, in die Nähe der Terroristen vom IS gerückt zu werden und dennoch steht ihre Religion unter Generalverdacht. Deshalb hat sich ein politisches Tabu entwickelt: Über Ursachen, die auch im Religiösen liegen könnten, darf nicht öffentlich gesprochen werden. Das birgt den Nachteil in sich, dass die Diskussion den Hardlinern der anderen Seite, den Demons­tranten von Pegida und Rechtsradikalen, überlassen wird.

Lamya Kaddor ist anders. Sie liegt mit ihren Aussagen oft quer zu allen gewohnten Einstellungen, ob links oder rechts, muslimisch oder nicht muslimisch. Sie kann sich das erlauben, weil sie weiß, wovon sie redet.

In Paderborn sprach sie über ihr Trauma als Lehrerin, das Anlass für ihr neues Buch war: „Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen“. Als einige ihrer Ex-Schüler 2013 nach Syrien gingen, um für den IS zu kämpfen, traf Lamya Kaddor diese Nachricht völlig unvorbereitet – obwohl sie als Kind syrischer Eltern selbst Muslimin ist und viel Erfahrung als muslimische Religionspädagogin gesammelt hat. Wie allen anderen war es ihr unbegreiflich, wie sich die Jungen von der gewalttätigen Romantik des IS verführen lassen konnten.

Viel zu oft geschieht das, was auch sie erlebt hat: dass niemand von den Veränderungen der Jugendlichen ahnt. Um das möglichst für die Zukunft zu verhindern, entwickelt Lamya Kaddor in ihrem Buch einen Frühwarnkatalog verdächtiger Anzeichen. In Paderborn erläuterte sie die Symptome der Radikalisierung: emotionaler Rückzug, neue unbekannte Freunde, plötzlich erwachendes Interesse an religiösen Fragen, eine wachsende Neigung zur Gewalttätigkeit. Nichts davon führt zwangsläufig in die Fänge des Islamischen Staates, dennoch ist erhöhte Aufmerksamkeit geboten, wenn derartige Veränderungen gemeinsam und plötzlich auftreten.

Jugendliche werden dann Opfer der radikalen Verführer, wenn es Familien nicht gelingt, Kontakt zu ihrem Kind zu halten. Die Heranwachsenden sind in der Pubertät unsicher und suchen neue Leitbilder. Wenn sie in ihrer nächsten sozialen Umgebung keinen Halt finden, wenden sie sich anderen, scheinbar überzeugenderen Ideologien zu.

Meistens waren die betroffenen jungen Männer vorher nicht besonders religiös, oft waren sie sogar religiös ungebildet. Das machte es den Rattenfängern der radikalen ul­tra­orthodoxen Salafisten leichter, ihre vergifteten Interpretationen des Korans in die Hirne der verunsicherten Jugendlichen zu träufeln.

Hinzu kommt die soziale Dimension. Kinder aus Zuwandererfamilien sind sogar in der dritten oder vierten Generation immer noch nicht in Deutschland angekommen. Der soziale Aufstieg fällt ihnen schwer, weil sie als „anders“ wahrgenommen werden. Vergleichsweise viele muslimische Jugendliche sind schon früh sozial abgehängt. Auch das macht sie empfänglich für radikale Botschaften.

Lamya Kaddor macht deshalb auch die deutsche Gesellschaft verantwortlich. Deutschland müsse endlich ein Einwanderungsland werden, das seine Zuwanderer wirklich integriert. Deutscher sei, wer einen deutschen Pass besitze. Nicht die Nationalität, sondern das Bekenntnis zur Verfassung und zur Demokratie zähle. Solche Botschaften werden immer noch nicht gerne gehört. Doch Lamya Kaddor ist überzeugt davon, dass sich die Gesellschaft als Ganzes ändern muss. Das Trennende muss überwunden werden, wenn der Hass enden soll, glaubt sie: „Wir müssen in unserer Gesellschaft ein starkes Wir-Gefühl schaffen.“

Karl-Martin Flüter

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