05.04.2018

„Wir sind für sie da“

Der Tagesablauf braucht eine Struktur. Ab 14.30  Uhr werden gemeinsam Hausaufgaben gemacht. Foto: Herrmann

Markkleeberg. „Die Mädchen in meiner Klasse lachen immer nur“, versucht Jonny, Rosanna ein wenig zu ärgern. Er grinst und packt sich eine gehörige Portion Nudeln mit Speck auf den Teller. Rosanna lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und isst geduldig weiter. Beide besuchen die 4b der örtlichen Grundschule. Jonny hat in der letzten Reihe seinen Platz, bei den Jungs, erklärt er, Rosanna in der Mitte. Zu Hause allerdings essen sie gemeinsam zu Mittag. Auch Timo und Andreas sitzen mit ihnen am langen Küchentisch. Paul und Julia, Rosannas jüngere Schwester, sind bereits fertig. Nach dem Tischgebet haben die beiden ihre Teller abgeräumt und sind auf ihre Zimmer gegangen. Karlas und Marias (Namen der Kinder geändert) Teller bleiben unbenutzt stehen. Die beiden Ältesten haben Nachmittagsunterricht.

von Alfred Herrmann

Rosanna, Julia, Jonny, Timo, Andreas, Paul, Karla und Maria bewohnen „Haus 1“ des Caritas Kinder- und Jugenddorfes in Markkleeberg südlich von Leipzig. Das große Wohnhaus verfügt im Erdgeschoss über eine geräumige Wohnküche und ein Wohnzimmer mit Couch und Fernseher, mit Büchern und Gesellschaftsspielen. Im Keller befindet sich ein Hobbyraum. Im Obergeschoss hat jedes der acht Kinder ein eigenes Zimmer. Die 7- bis 13-jährigen Jungen und Mädchen bilden die sogenannte „Familiennahe Wohngruppe“. Mindestens zwei Jahre lebt jedes Kind hier. Manche bleiben sogar dauerhaft, bis sie 18 Jahre alt sind. Betreut werden die Kinder im „Haus 1“ von sechs Pädagogen rund um die Uhr.

Umgeben von Spielplatz, Fußballfeld und Kletterfelsen bilden die vier Häuser des Caritas Kinder- und Jugenddorfes Markkleeberg das Zuhause für 27 Jungen und Mädchen zwischen 5 und 18 Jahren. In der „Familiären Wohngruppe“ in „Haus 2“ finden acht Kinder dauerhaft bis zur Volljährigkeit ihre Heimat. In der „Intensiv pädagogischen Wohngruppe“ in „Haus 3“ leben sechs Jungs, die auf eine besonders ausgeprägte Betreuung angewiesen sind. In „Haus 4“ befindet sich die Verwaltung. Zudem wohnen hier unbegleitete Flüchtlinge: vier Mädchen aus Syrien und Afrika.

Nach dem Essen ziehen sich die Kinder zur Mittagsruhe zurück. Sie haben auf ihrem Zimmer Zeit für sich. Paul schläft. Timo spielt mit seinem Playmobil-Krankenhaus. Rosanna verkriecht sich unter ihre Bettdecke und liest „Pferdegeschichten“. Die Zehnjährige liebt Hunde, wie ihre selbst gemalten Bilder an der Wand bezeugen. Rosanna findet das Kinderdorf okay. Allerdings wäre sie lieber bei ihren Eltern, gibt sie zu. „Meine Mama kann nicht richtig laufen und muss oft ins Krankenhaus. Mein Papa arbeitet immer bis tief in die Nacht“, erklärt sie, warum sie mit ihrer Schwester Julia im Kinderdorf lebt. Beide Mädchen fahren jedes zweite Wochenende nach Hause.

Jonny traf sich am Sonntag für sieben Stunden mit seinem Vater. Einmal im Monat ist das so verabredet. „Er hat mich hier abgeholt“, ist der Elfjährige stolz. „Bei ihm haben wir dann zwei Filme geguckt.“ Nachdenklich fügt er an: „Wenn ich meinen Papa nicht sehe, bin ich traurig.“ Timo kennt hingegen seinen Vater nicht mehr. Seine Mutter lebt mit einem anderen Mann zusammen. Vor Kurzem bekam sie einen weiteren Sohn, ihren vierten. Timo fällt es schwer zu verstehen, wa­rum gerade er im Kinderdorf leben muss und nicht einer seiner Brüder. Andreas kam vor zwei Monaten ins Kinderdorf. Auf die Frage, warum er hier ist, meint der Neunjährige: „Weil meine Eltern sich gestritten haben.“

„Wenn Kinder von ihren Eltern getrennt leben müssen, ist das immer eine Tragödie! Was ein Kind da durchmacht, das können wir uns nur ganz schwer vorstellen“, betont Kinderdorfleiterin Gabriele Fleck-Hartmuth, „Kinder brauchen den Kontakt zu ihren Eltern, auch wenn die Beziehungen zu den Eltern belastet sind.“ Die Sozialpädagogin sieht in der Zusammenarbeit mit den Eltern eine wichtige Aufgabe des Kinderdorfes. Mithilfe von Psychologen und Pädagogen soll der Faden nicht abreißen, auch wenn Kinder zu Hause Gewalt erfahren haben, vernachlässigt wurden oder Missbrauch ausgesetzt waren.

„Alle Kinder, die zu uns kommen, haben eine Situation im häuslichen Umfeld erleben müssen, die für sie sehr schwer war“, erklärt Fleck-­Hartmuth. Sie spricht von Eltern, die aufgrund psychischer Erkrankungen oder körperlicher Einschränkungen nicht angemessen für ihre Kinder sorgen können; von Eltern, die aufgrund von Alkohol- und Drogensucht den Blick für ihre Kinder verlieren; von Eltern, die ihre Kinder zu Zeugen und zu Opfern von Gewalt machen. „Alle Kinder im Kinder- und Jugenddorf bringen psychische Verletzungen mit“, eröffnet die Leiterin der Einrichtung einen Blick hinter die oftmals nur vordergründig fröhlichen Gesichter der Jungen und Mädchen. Sie leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen, unter impulsiven Wut- und Gefühls­ausbrüchen, zeigen Sprachdefizite, haben Konzentrationsschwächen und Schwierigkeiten, sich alleine zu beschäftigen. Symptome wie Aufmerksamkeitsstörungen oder Einnässen sind keine Seltenheit. Im Kinderdorf können die Mädchen und Jungen Abstand gewinnen und erhalten Unterstützung.

„Die Kinder sollen wissen, dass wir für sie da sind und mit ihnen durch ihre Krise hindurchgehen.“ Ein festes Team von Erziehern, Sozialpädagogen und einer Psychologin begleitet die Kinder durchs Leben. Sie sorgen sich um eine geeignete Schule, um Ergotherapie, Logotherapie, psychologische Betreuung. „Die Kinder und Jugendlichen brauchen eine feste Tagesstruktur und verlässliche Beziehungen“, nennt Fleck-Hartmuth die beiden haltgebenden Eckwerte der Einrichtung. „Wir machen den Kindern Beziehungsangebote und durchleben mit ihnen einen klar durchstrukturierten Tag. Struktur gibt Sicherheit.“

Ab halb drei Uhr am Nachmittag sitzen die Kinder über ihren Hausaufgaben. Am großen Tisch im Wohnzimmer übt Jonny mit einem Erzieher Mathe: „Was ist ein Liter?“, lautet die Frage. Daneben schneidet Julia ein Bühnenbild für ihr Papiertheater aus, das sie in der Schule gebastelt hat. „Der Hase und der Igel, das ist eine Fabel, da sprechen Tiere wie Menschen“, erklärt sie. Karla vertieft sich derweil in ihr Buch. „Dork Diaries“ zieht die Zwölfjährige in ihren Bann. Andreas muss noch etwas ausmalen. Eine Erzieherin kontrolliert währenddessen das Hausaufgabenheft von Rosanna. Sie ist bereits fertig und freut sich auf die Freizeit. Für eine halbe Stunde darf die Zehnjährige ins Internet. Für sie heißt das, Musik hören und Comedy-Clips schauen. Danach geht sie in den Hobbyraum. Nach Kleidergrößen liegen dort aufgereiht an der Wand Schneehosen und Skijacken für die Winterfreizeit in der kommenden Woche im Erzgebirge. Dreimal im Jahr fahren die Kinder zusammen weg, an die Ostsee, zum Zelten, in den Schnee.

Jonny fuhr letzten Sommer mit zur Religiösen Kinderwoche der Pfarrei St. Peter und Paul. Getauft ist er zwar nicht, wie fast alle im Kinderdorf. Markkleeberg liegt in der Diaspora. Mehr als drei Viertel der Gesamtbevölkerung gehören in Sachsen weder einer christlichen Kirche noch einer anderen Religion an. Knapp vier Prozent sind katholisch. Dennoch, Religion interessiert Jonny. „Wir machen den Kindern religiöse Angebote“, betont Kinderdorfleiterin Fleck-­Hartmuth. „Wir feiern die katholischen Feste im Jahreskreis, beten zum Essen und besuchen auch mal den Sonntagsgottesdienst.“ Wichtiger als die religiösen Rituale ist ihr jedoch die innere Haltung der Kinderdorfmitarbeitenden. „Durch unsere Haltung wird die religiöse Einstellung unserer Einrichtung deutlich“, meint die Leiterin des Kinderdorfes, „welche Wertschätzung die Pädagogin, der Pädagoge einem Kind entgegenbringt, mit welcher Geduld dem Kind vermittelt wird: ,Du bist okay, so wie du bist.‘“

Weitere Fotos und Texte zu diesem Thema finden Sie im DOM Nr. 14 vom 8. April 2018

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