9 Min.
04.07.2024
Möchten mit „gast+haus“ auf die Lebensrealität der Menschen reagieren: Regina Beissel und Herbert Bittis.
Foto / Quelle: Andreas Wiedenhaus

Angebote ohne „Haken“

Im Interview sprechen Regina Beissel und Herbert Bittis vom Projekt „gast+haus“ in Bielefeld über kirchliche Möglichkeiten und Versäumnisse in einer Großstadt.

Interview: Andreas Wiedenhaus

„Kirche mal anders“ steht auf Ihrer Internetseite. Was heißt das?

Regina Beissel: Als wir vor rund zehn Jahren den Auftrag bekamen und das Projekt startete, hieß es: Machen Sie mal was ganz anderes! Daraufhin haben wir eine ganze Reihe von Angeboten entwickelt, die auch immer recht gut besucht waren. Es gab zum Beispiel ein Konzert mit Gunther Gabriel, verschiedene Autorenlesungen und vieles mehr. Allerdings ist es nicht gelungen, Menschen anzusprechen, die kaum bzw. nichts mehr mit Kirche zu tun haben. Danach gab es einen Beratungsprozess. Und das Ergebnis lautete, die Momente, wo Kirche angefragt wird, ganz individualisiert zu gestalten – und zwar speziell Hochzeiten und Beerdigungen. Wir haben in Konkurrenz zu den freien Trauer- und Traurednern ein christliches Angebot installiert mit dem Anspruch, ganz individuell auf die Bedürfnisse des Gegenübers einzugehen. Und das in drei Bereichen: Hochzeiten, Trauerfällen und Lebensberatung.

Herbert Bittis: Hinzu kommt, dass wir personalisiert für unser Angebot werben. Üblicherweise ist es ja so, dass der Wunsch nach einer Trauung in die Dienstbesprechung kommt und dann entschieden wird, wer diese übernimmt. Das Paar bekommt dann die Rückmeldung, welcher Priester sie begleitet. Gewissermaßen kauft es dabei die Katze im Sack: Man kennt sich nicht, weiß nicht, ob man sich mag und miteinander zurechtkommt, ob auf die eigenen Wünsche eingegangen wird. Wenn man mich haben möchte, kann man anhand des Imagefilms auf unserer Homepage sehen, wie ich aussehe, wie ich spreche. In einer konkreten seelsorglichen Situation zeigen wir unser Gesicht und sagen: Dafür stehen wir!

Regina Beissel: Wir wollen zeigen, was wir für Menschen sind, wie wir ticken. Wir haben heute Mittag noch darüber gesprochen, dass unser neuer Erzbischof es in den Filmen auf der Seite des Erzbistums ja ähnlich macht: Er zeigt, wer er ist.

Mit der eigenen Person, dem eigenen Gesicht für etwas werben – das ist im kirchlichen Umfeld eher unüblich.

Herbert Bittis: Wir haben zuvor mit den Angeboten geworben und sind dann umgeschwenkt: Wir zeigen jetzt ganz klar: „Wenn Sie uns buchen, bekommen Sie das und das.“

Regina Beissel: Darauf gekommen sind wir, nachdem wir in Aachen eine Fortbildung, eine Gründerwerkstatt besucht haben.

Herbert Bittis: Für mich gab es dann noch ein Aha-Erlebnis in einem Gespräch mit einem Brautpaar, als beide mich fragten, warum ich mich Pastor und nicht Hochzeitspriester von Bielefeld nenne. Wenn heute ein Paar in Bielefeld kirchlich heiraten möchte und sich beispielsweise an ein Pfarrbüro wendet, kommt schnell die Frage: Zu welcher Gemeinde gehören Sie? Tatsache ist, dass das die Leute in den meisten Fällen gar nicht wissen. Wir müssen uns in diesem Zusammenhang die Realität vor Augen halten und berücksichtigen, so wie es zum Beispiel das Bistum Essen macht: Dort gibt es eine zentrale Internetseite für Paare, die heiraten wollen. Dahinter braucht man ein entsprechendes Team, und dieses Ziel haben wir.

Sie denken also kundenorientiert – was heißt das konkret?

Herbert Bittis: Wenn ich bei einer Trauung 80 Teilnehmer in der Kirche habe, muss ich davon ausgehen, dass dieses Umfeld für etwa 60 eine fremde Welt ist. Wenn ich das zugrunde lege, möchte ich die Feier so gestalten, dass alle mit einem positiven Gefühl aus der Kirche kommen. Um es mal so zu sagen: In solchen Momenten trifft man auf viele potenzielle Neukunden.

Auf Ihrer Internetseite bieten Sie „freie Trauerfeiern und Trauungen im katholischen Rahmen“ an. Was kann man sich darunter vorstellen?

Herbert Bittis: Das bezieht sich zum einen auf die „freien“ Rednerinnen und Redner in diesem Bereich. Frei meint für uns, dass das Kirchenrecht natürlich gewahrt bleibt, aber dass wir auf Wünsche und Ideen eingehen. Es muss ja nicht mir gefallen, den Paaren muss es gefallen. Sie können nur an etwas glauben, was sie schön finden. Nicht im Sinne einer Ästhetik, sondern vor dem Hintergrund, dass sie sich dort wiederfinden, dass sie sagen können: Das sind wir, dieser Priester hat uns verstanden!

Das gilt auch für die Trauerfeiern?

Regina Beissel: Ich kann mir nicht vorstellen, einer Trauerfeier vorzustehen, bei der nicht von der christlichen Auferstehung die Rede ist. Das ist essenziell für mich, das ist mein Glaube. Aber in der Ansprache und den Ritualen richte ich mich sehr nach den Wünschen der Angehörigen. Für das Vorgespräch nehme ich mir viel Zeit, wenn es gewünscht wird, gibt es auch anschließend noch einmal ein Treffen. Ich sehe das genauso wie Pastor Bittis: Mein Geschmack ist nicht entscheidend, zum Beispiel bei Musikwünschen. Wenn bestimmte Musikstücke eine Bedeutung für den Verstorbenen oder die Angehörigen haben, ist das wichtig und richtig. Und bei der Lebensberatung geht es sowieso um die Themen, die die Menschen mitbringen, und nicht um Bekehrung oder so etwas.

Sie haben gesagt, Sie nehmen sich Zeit. Was heißt das konkret?

Herbert Bittis: Heute Abend kommt ein Brautpaar. Dann gibt es zur Begrüßung ein Glas Sekt, es gibt etwas zum Knabbern und wir können ungezwungen ins Gespräch kommen. Das Ausfüllen des notwendigen Ehevorbereitungsprotokolls steht als bürokratischer Akt nicht im Mittelpunkt. Wir erledigen das, aber in erster Linie geht es darum, sich kennenzulernen. Dann folgt ein zweites Treffen, bei dem wir dann die Feier besprechen.

Regina Beissel: Hinzu kommt, dass wir versuchen, ein Feedback zu bekommen.

Herbert Bittis: Nach vier Wochen schreibe ich eine E-Mail und erkundige mich, ob das, was wir besprochen haben, umgesetzt worden ist oder ob ich etwas vergessen habe. Ich mache auch das Angebot, sich noch einmal zu treffen.

Haben Sie nicht manchmal Angst, Teil einer Inszenierung zu werden?

Herbert Bittis: Darauf lasse ich mich gern ein! Schließlich sind wir doch als Kirche Fachleute für Inszenierungen. Da muss schon viel passieren, damit ich sage, da mache ich jetzt nicht mehr mit! Bei aller Freiheit, die die Paare haben: Das ist noch nie geschehen!

Ist das bei Trauerfeiern ähnlich?

Regina Beissel: Der Anlass ist natürlich der völlige Gegensatz, aber grundsätzlich kann ich auch hier sagen, dass die Menschen schon das passende Gespür dafür haben, was angemessen ist und was nicht.

Herbert Bittis: Der Theologe Fulbert Steffensky sagt: Die Kirche ist eine Art Kostümverleihanstalt mit ihren Schätzen, mit ihrer Tradition und mit ihren Bildern. Das habe ich mir zu eigen gemacht: Für besondere Momente in ihrem Leben wie Hochzeiten oder Beerdigungen haben viele Menschen keine Sprache, keine Geste, kein Kostüm mehr. Das bekommen sie bei uns. Und nachher geben sie das wieder ab und leben ihr Leben weiter. Ich bin gern derjenige, bei dem sie dies alles für ihre Hochzeit leihen können.

Das muss man als Seelsorger aber erst einmal so akzeptieren.

Herbert Bittis: Ich bin ja nicht der Hausherr. Das ist ein ganz anderer. Ich merke natürlich, wenn Menschen fremd in unseren Räumen sind, ich spüre ihre Unsicherheit. Aber es hilft ja nicht, ihnen die Hausordnung um die Ohren zu hauen. Ich darf nicht erwarten, dass diese Menschen im Gottesdienst die richtigen Antworten geben. Woher sollen sie sie auch kennen? Damit muss ich so umgehen, dass sie es nicht als abwertend empfinden. Ich möchte sie ja gewinnen und keine Eigentore schießen! Bei einer Trauung mache ich vorher immer so eine Art Warm-­up: „Wo sind Sie hier? Wann waren Sie das letzte Mal in einer Kirche? Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?“ Ich erkläre, dass eine Kirche nicht durch die Weihe eine Kirche wird, sondern dadurch, dass dort Lebensgeschichten erzählt werden. Ich sage, dass das kein Ruß an den Wänden ist, sondern die Gebete der Menschen, die schon in der Kirche waren und dass man diese bei genauem Hinhören auch hören könne. Wenn wir meinen, dass eine Kirche ein besonderer Ort ist, muss man dies ihnen erschließen, es übersetzen. Das tue ich, indem ich eine Moderatorenrolle einnehme.

Gerade bei Trauerfeiern haben freie Redner einen großen Zulauf. Hat die Kirche da etwas verpasst?

Regina Beissel: Wir sind lange davon ausgegangen, dass wir Menschen, auch wenn sie Jahre oder Jahrzehnte nicht in der Kirche waren, auf jeden Fall beerdigen. Und das so ein bisschen mit dem Gedanken, dass die Leute froh sein sollen, dass wir das machen. Mittlerweile gibt es ein Umdenken – auch vor dem Hintergrund, dass sich zum Beispiel in Bielefeld nicht einmal mehr 50 Prozent der Katholiken kirchlich beerdigen lassen. Hinzu kommt, dass auch die Bestatter heute viel mehr darauf achten, ein stimmiges Gesamtangebot zu machen, bei dem alles passt. Dabei muss auch die Kirche Leistung bringen; etwas, woran sich viele kirchliche Repräsentanten erst gewöhnen müssen. Als Kirche befinden wir uns da auf einem Markt, und wir müssen für uns werben. Das ist neu.

Was heißt das für Sie?

Regina Beissel: Für mich heißt das, eine Trauerfeier zu halten, die der Person, um die es geht, angemessen ist. Dafür muss ich sie kennen: Ich frage nach Hobbys und Interessen, schaue mir Fotos an, lasse die Angehörigen erzählen. Ich nehme mir Zeit und zeige auch den Angehörigen, dass ich Zeit habe und vor der Trauerfeier erreichbar bin, falls ihnen noch etwas Wichtiges eingefallen ist.

Sie haben eben schon den Bereich Lebensberatung angesprochen. Was bieten Sie dort an?

Regina Beissel: Wenn jemand sich an mich wendet, kann das ganz unterschiedliche Gründe haben. Die Gespräche drehen sich häufig um wichtige Entscheidungen, Krisensituationen, Trauerprozesse.

Herbert Bittis: Das machen viele andere Seelsorger und Seelsorgerinnen sicherlich genauso und genauso gut.

Ist das bei Trauerfeiern ähnlich?

Regina Beissel: Der Anlass ist natürlich der völlige Gegensatz, aber grundsätzlich kann ich auch hier sagen, dass die Menschen schon das passende Gespür dafür haben, was angemessen ist und was nicht.

Und wo sind die Unterschiede?

Herbert Bittis: Zum einen, dass wir aktiv speziell für diese Angebote werben, dass wir uns „raushängen“ als Personen. Zum anderen die Erkenntnis, dass man akzeptieren muss, wenn man auch mit guten Angeboten nicht mehr zu Menschen vordringt; weil zum Beispiel unsere Gemeindestrukturen nichts mehr mit der Lebensrealität der Menschen zu tun haben. Wir können sie darüber in einer Stadt wie Bielefeld nur noch sehr begrenzt an uns binden.

Regina Beissel: Unsere Angebote wie Trauungen oder Beerdigungen werden in Anspruch genommen, aber man darf da­rüber hinaus keine Erwartungen haben. Sie werden als besondere Serviceangebote wahrgenommen.

Herbert Bittis: Die Angebote von „gast+haus“ haben keinen Haken, nach dem Motto: Wenn Sie uns in Anspruch ­nehmen, erwarten wir das und das von Ihnen. Das funktioniert nicht. Wenn Menschen punktuell zu uns Kontakt suchen und man anschließend nichts mehr von ihnen hört, ist das richtig für sie! Auch für mich war das ein Lernprozess: Viele Menschen glauben auf Zeit; und wenn es nur für den kurzen Moment einer Trauung ist. Das ist ganz anders, als wir das als Kirche gerne hätten. Aber es ist so, und für die Menschen ist das in Ordnung. Was danach kommt? Da muss man Gott die Chance lassen!

Regina Beissel: Das hat ja auch etwas Jesuanisches: Nicht alle, die Jesus begegnet sind, sind ihm auch nachgefolgt. Das war nur ein Teil, die anderen haben ihr Leben weitergelebt wie zuvor.

„Offen, unkompliziert, gastfreundlich“, heißt es auf Ihrer Internetseite. Ist es das, was Menschen bei der Kirche heute vermissen?

Regina Beissel: In Gemeinden ist es manchmal ein Problem, dass sich Gruppen bilden, die auf andere geschlossen wirken, sodass sie sich ausgegrenzt fühlen. Wir versuchen es nach dem Motto: „Komm einfach vorbei!“

Herbert Bittis: Die Idee hinter Gastfreundschaft ist doch die, dass der, der sie anbietet, das völlig ohne Hintergedanken oder Berechnung tut: Derjenige, der kommt, kann wahrscheinlich auch zu Hause satt werden. Aber in der Gastfreundschaft schmeckt es halt besser. Diese Haltung versuchen wir, auf unsere Angebote zu übertragen – die ja im Übrigen auch kostenlos sind. Was echte Gastfreundschaft auszeichnet.

Welche Reaktionen bekommen Sie – auch von anderen Geistlichen?

Herbert Bittis: Unsere Konkurrenz sind ja nicht die anderen Pfarrer oder Seelsorger, es sind die freien Rednerinnen und Redner. Für diese Erkenntnis hat es manchmal etwas Zeit gebraucht.

Etwas „außer der Reihe“ anbieten – das machen Sie ja schon lange, Herr Bittis.

Herbert Bittis: Die Idee, Dinge anders zu machen oder es zumindest zu versuchen, verfolge ich schon seit meiner Weihe vor 30 Jahren; ein bisschen nach dem Motto des Senders 3sat, „anders fernsehen“. Aber einfach Inhalte nur anders zu verpacken, ist ja nicht das Ziel. Für mich geht es um die Frage der Haltung: Wie trete ich Menschen entgegen, wie nehme ich sie wahr, akzeptiere ich sie, wie sie sind?

Regina Beissel: Damals war ich noch nicht Gemeindereferentin, aber im Pfarrgemeinderat und ich weiß noch, dass diese Ideen nicht allen gefallen haben – auch in der Bistumsleitung. Vieles hat sich seitdem gewandelt, heute rennen wir offene Türen ein!

Dass Menschen die Kirche heute in Scharen verlassen, könnte ein Grund für diesen Sinneswandel sein?

Herbert Bittis: Mag sein, aber wir werden sie auch mit Angeboten wie unseren davon nicht abhalten. Trotzdem wollen wir uns nicht so ganz kampflos geschlagen geben.

Zur Person

Regina Beissel arbeitete nach dem Musikstudium an der Musikhochschule Detmold und einer musiktherapeutischen Ausbildung an der Universität Siegen im pädagogischen und therapeutischen Dienst einer Jugendhilfeeinrichtung des Erzbistums Paderborn. Während dieser Zeit wurde sie Virgo consecrata und schloss ein berufsbegleitendes Studium der Religionspädagogik ab. Es folgten die Arbeit als Gemeindereferentin in verschiedenen Pfarreien, eine Ausbildung „geistlich begleiten“, bis sie 2014 zur Gemeinde St. Johannes Baptist in Bielefeld kam. Hier stehen die geistliche Begleitung von Menschen, spirituelle Angebote sowie die Planung und Durchführung von freien katholischen Trauerfeiern im Zentrum ihrer Arbeit.

Herbert Bittis studierte nach seiner Ausbildung zum Landmaschinenmechaniker Theologie und Philosophie in Paderborn und Wien. Nach seiner Priesterweihe war er in verschiedenen Pfarreien tätig und rief die Projekte „Jugendkirche Bielefeld“, das „Jugendkloster Bielefeld“ sowie die Gottesdienstreihe „Anders-­Gottesdienste“ ins Leben. Seit 2022 bietet er als Pastor der Gemeinde St. Johannes Baptist freie katholische Trauungen und Segensfeiern an. Dabei begleitet er Paare in einer feierlichen wie individuellen Zeremonie auf ihrem Weg in ihr gemeinsames Leben.

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