Blut und Schweiß und Schmutz – Gedenken an Otto Günnewich
Eine Plakette an der Kirche St. Marien in Lügde erinnert an Leben und Sterben von Otto Günnewich. (Foto: Flüter)
Weil die Fronleichnamsprozession in dem sauerländischen Dorf Niedersalwey über die Dorfstraße geführt wurde, verhaftete die Gestapo 1941 den Pfarrvikar Otto Günnewich. Er wurde als Insasse des Konzentrationslagers Dachau vergast. Immer wieder war er für lange Zeit fast vergessen.
Lügde/Niedersalwey. Er sei eigentlich ein unpolitischer Priester gewesen, haben Zeitzeugen über den vor 120 Jahren in Lügde geborenen Otto Günnewich berichtet. „Seine Arbeit und seine Interessen galten seiner eigentlich priesterlichen Sendung“, schrieb die Westfalenpost zehn Jahre nach seinem Tod.
Doch gerade „der Eifer für den eucharistischen Geist“, so sein Biograf Georg Klausener SMB, brachte den Priester in Gefahr. 1940 vereinbarte der Pfarrvikar für die Gemeinde in Niedersalwey bei Eslohe mit der Polizeiverwaltung einen neuen Prozessionsweg, der 150 Meter über die Dorfstraße führen sollte. Ein Jahr später galt diese Abmachung nicht mehr. Anfang Juni 1941 informierte die Gestapo Regierungspräsidenten, Landräte und Bürgermeister sowie die Leitungen der Polizeibehörden in einem vertraulichen Schreiben, die Fronleichnamsprozessionen seien „auf kircheneigenen Grund zu beschränken“. Der Dorfpolizist in Niedersalwey wollte Otto Günnewich informieren. Doch unglückliche Umstände verhinderten, dass die Nachricht den Geistlichen erreichte. So nahm das Unglück am 15. Juni 1941 seinen Lauf.
„Das hat Vikar Otto Günnewich so gemacht“
Otto Günnewich war Kind des Lügder Bahnarbeiters Christian Günnewich und seiner Frau Pauline, geborene Teenie. Er hatte elf Geschwister, von denen fünf im Kindesalter verstarben. Der begabte Junge gelangte auf Fürsprache in das Internat Immensee in der Schweiz, das er nach sechs Jahren verließ. 1921 schaffte Günnewich die Aufnahme am Theodorianum in Paderborn. Dort legte er 1924 das Abitur ab und begann im selben Jahr mit dem Studium der Theologie. Am 5. April 1930 wurde Otto Günnewich in Paderborn zum Priester geweiht.
Die erste Seelsorgestelle in der Diasporagemeinde Gommern südöstlich von Magdeburg verließ er nach vier Jahren – offenbar, weil seine labile Gesundheit den Anstrengungen nicht gewachsen war. Otto Günnewich war als Siebenmonatskind zur Welt gekommen, die Mutter bewahrte das kleine Baby in einem Körbchen neben dem häuslichen Herd auf. Spätestens seit 1934 litt er an einem chronischen Geschwür im Zwölffingerdarm.
Günnewich wechselte auf eine Stelle als Pfarrvikar in Niedersalwey. Diese abgelegene Gemeinde erlaubte es ihm, sich zu erholen. Die Menschen in Niedersalwey schätzten ihn, die Kirche war voll, die Kommunionzahlen stiegen. Noch Jahre nach seinem gewaltsamen Tod hieß es anerkennend über den Pfarrvikar: „Das hat Vikar Günnewich so gemacht.“
Vergast und verbrannt im KZ Dachau
Am 15. Juni 1941, einem Sonntag – die Prozession fand nicht am eigentlichen Feiertag statt –, legte der Zug wie im Jahr zuvor 150 Meter über die Dorfstraße zurück. Dabei wurde die Kückelheimer Brücke kurzzeitig blockiert. Warten mussten auch zwei NSDAP-Mitglieder in ihrem Pkw. Scheinbar haben sie Günnewich angezeigt.
Otto Günnewich, der von dem Unheil, das sich über ihm zusammenbraute, nichts ahnte, reiste nach der Prozession zu seinen Eltern in Lügde. Als er am 11. Juli zurückkehrte, lag bereits ein Haftbefehl vor. Er wurde am 12. Juli im Polizeigefängnis in Dortmund in „Schutzhaft“ genommen. Vier Wochen später verlegte man ihn ins Zentralgefängnis in Bochum. Dort soll sich Günnewich, glaubt man den Aussagen einen ungenannten Franziskanerpaters und Mithäftlings, als Gegner des „religionslosen und gottfeindlichen“ nationalsozialistischen Systems gezeigt haben. Nie zuvor habe er die Gelegenheit gehabt, „so allein mit Gott zu sein“ als in der Isolation der Haftanstalt, schrieb Otto Günnewich an ein Gemeindemitglied.
Aus dem November 1941 ist ein abschlägiger Bescheid dokumentiert, in dem die Gestapo die schriftliche Bitte des Vaters um Haftentlassung aus der Schutzhaft ablehnte. Kurz danach wurde Otto Günnewich in den „Priesterblock“ des Konzentrationslagers Dachau verlegt. Beim „Priesterblock“ handelte es sich um mehrere Baracken, in denen etwa 1 000 inhaftierte Priester aus Deutschland und dem Ausland unter unmenschlichen Bedingungen existieren mussten.
Auch im Winter zwang man die Häftlinge, nur dürftig gekleidet und kaum mit Nahrung versorgt, auf offenem Gelände schwere Arbeit zu verrichten. Es war abzusehen, dass der Priester aus Niedersalwey, der unter einer schwachen Gesundheit litt, dem Terror nicht lange widerstehen könnte. Nach einem halben Jahr schwollen seine Füße und Hände an. Die Mithäftlinge schleppten ihn frühmorgens auf den Appellplatz. Sie wussten, welches Schicksal Kranken, den sogenannten „Invaliden“, im KZ Dachau erwartete.
„er lag den ganzen Tag über auf dem Boden in dem Schmutz“
Ein Leidensgefährte, der ebenfalls inhaftierte Pfarrer Karl Hoffmann, berichtete später über Günnewich: „So wurde er mehrere Tage von seinen Kameraden jeden Morgen zur Arbeit getragen … er lag also den ganzen Tag über auf dem Boden in dem Schmutz, ohne irgendeine Hilfe oder einen Schutz, wenn es regnete.“
Schließlich wurde Günnewich auf das Krankenrevier verlegt. Dort kam das Ende, als eine Kommission, bestehend aus dem Lagerarzt und SS-Leuten, mit einem Handzeichen Todeskandidaten für die „Invalidenliste“ bestimmte. Günnewich war unter ihnen, er kam in den „Invalidenblock“. „Hier warteten die Todgeweihten, die um ihr unentrinnbares Schicksal wussten“, berichtete der KZ-Insasse Karl Hoffmann. Sie warteten, bis sie die Nächsten für den „Invalidentransport“ waren.
Der „Invalidentransport“ war ein Deckname für den Vergasungstod. Die Menschen wurden gezwungen, ein Bad aufzusuchen und sich zu entkleiden. Dann wurde ihnen gesagt, sie würden zur Neueinkleidung gefahren. Otto Günnewich wird nackt wie alle anderen den Lkw bestiegen haben, dessen Türen luftdicht verschlossen wurden, bevor die Mörder die Abgase des Autos in das Lkw-Innere leiteten. Auf diese Weise starb Otto Günnewich am 10. August 1942 einen qualvollen Erstickungstod.
Direkt nach der Vergasung brachte man die Leichen in das Krematorium des KZs. Die Eltern von Otto Günnewich erhielten eine Urne mit der Asche von verbrannten Körpern. Am 5. November fand die Beisetzung in Lügde statt. Es gab Auflagen für die Beerdigung, an der nur wenige Lügder teilnehmen durften. In Niedersalwey hatte die dortige Gemeinde schon Anfang Oktober eine Trauerfeier abgehalten, an der neben vielen Menschen aus dem Ort die Angehörigen aus Lügde und 18 Priester aus der Region teilnahmen.
Lange Zeit war Otto Günnewich vergessen
Otto Günnewich war der einzige katholische Priester aus dem Sauerland, der in einem Konzentrationslager ermordet wurde. In den 1950er- und 1960er-Jahren blieb der mit 40 Jahren gestorbene Günnewich den Menschen seiner Generation in guter Erinnerung. 1967, ein Vierteljahrhundert nach seinem gewaltsamen Tod, feierte die Kirchengemeinde Niedersalwey das „Otto-Günnewich-Jahr“. Im selben Jahr wurde die Schule im Ort nach seinem Namen benannt. In Lügde erinnerte lange nur die steinerne Grabplatte auf dem Friedhof an der St.-Kilian-Kirche an Otto Günnewich. Heute ist die Inschrift verwittert und kaum noch zu entziffern.
50 Jahre nach seinem Tod beschäftigte sich eine Firmgruppe in Lügde mit Otto Günnewich. 1994 erschien eine Biografie. Auch auf Drängen des Firmgruppenleiters Hubert Klenner wurde an der Kirche St. Marien in Lügde ein Relief mit dem Porträt Günnewichs angebracht. Klenner, der heute dem Pfarrgemeinderat von St. Marien angehört, will im Herbst mit Veranstaltungen an den 120. Geburtstag und den 80. Todestag des Priesters erinnern.
Nachdem sie seine Würde im Leben und im Tod mit Füßen getreten hatten, erwies sich die KZ-Bürokratie im Umgang mit den letzten Dingen des Ermordeten überkorrekt. Die Familie erhielt die Wäsche, die er zuletzt getragen hatte. „Die Hemden hat man hinstellen können“, erinnerte sich ein Zeitzeuge, „vor lauter Blut und Schweiß und Schmutz.“ Die Schwägerin des Toten, Therese Günnewich, wusch die Kleidung, damit die Mutter nicht sah, was Otto erlitten hatte. Über ihren Sohn, der als Frühchen neben dem Hausherd überlebt hatte, soll Pauline Günnewich gesagt haben: „So jämmerlich wurde er groß und so elend musste er sterben.“
Karl-Martin Flüter