Bräute und Küsse
Susanna im Bade von Lovis Corinth aus dem Jahr 1890, oben links der Richter. Foto: Wikimedia
Wenn ein Mensch von heute nach sinnlichen Liebesgeschichten oder gar erotischer Liebeslyrik sucht, würde er vermutlich nicht in der Bibel beginnen. Obwohl er dort fündig würde!
von Susanne Deininger
„Schön bist du, meine Freundin, ja, du bist schön. Hinter dem Schleier deine Augen wie Tauben … Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, wie die Zwillinge einer Gazelle, die in den Lilien weiden.“ (Hld 4,1ab.5) „Komm, mein Geliebter, wandern wir auf das Land, schlafen wir in den Dörfern. Früh wollen wir dann zu den Weinbergen gehen und sehen, ob der Weinstock schon treibt, ob die Rebenblüte sich öffnet, ob die Granatbäume blühen. Dort schenke ich dir meine Liebe.“ (Hld 7,12f) „Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich. Süßer als Wein ist deine Liebe.“ (Hld 1,2) „Ein Apfelbaum unter Waldbäumen ist mein Geliebter unter den Burschen. In seinem Schatten begehre ich zu sitzen. Wie süß schmeckt seine Frucht meinem Gaumen!“ (Hld 2,3) „Sein Mund ist voll Süße; alles ist Wonne an ihm.“ (Hld 5,16a) „Nordwind, erwache! Südwind, herbei! Durchweht meinen Garten, lasst strömen die Balsamdüfte! Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von den köstlichen Früchten.“ (Hld 4,16) „Ich komme in meinen Garten, Schwester Braut; ich pflücke meine Myrrhe, den Balsam; esse meine Wabe samt dem Honig, trinke meinen Wein und die Milch. Freunde, esst und trinkt, berauscht euch an der Liebe!“ (Hld 5,1) All das Reden von Düften, sich öffnenden Blüten und genossenen Früchten, von geöffneten Waben und Süßigkeit … Ich überlasse es der Fantasie des Lesers, sich selbst zu deuten, was diese Bilder sagen wollen. Altorientalische erotische Liebeslyrik vom Feinsten! Und mit Sicherheit nicht versehentlich in unsere Heilige Schrift geraten. Wir dürfen dieses Buch durchaus als religiöses Statement verstehen. Es sagt uns: Erotik ist etwas Schönes, von Gott Gewolltes und Geschaffenes. Natürlich gibt es auch eine Reihe von Erzählungen, die Erotik von ihrer problematischen und gefährlichen Seite zeigen: Da ist zum Beispiel die schöne Susanna, die beim Baden von zwei Richtern mit lüsternen Blicken verfolgt wird. Sie löst durch ihre erotische Ausstrahlung bei den Männern eine Begierde aus, der sie nicht Herr werden. Das erotische Bild der nackten Frau beim Baden kippt in eine sehr unschöne Geschichte von sexueller Nötigung und falscher Anklage, die nur wegen der Weisheit des Daniel und des festen Glaubens der Susanna gut ausgeht. (Dan 13)
Im Zweiten Testament, also in den Geschichten um Jesus, spielt das Element der Erotik keine große Rolle. Aber die Basis ist ja zuvor schon gelegt und immer noch gültig, auch für Jesus und seine Jünger. Obwohl: Wenn ich mir die Geschichte von der Salbung Jesu durch die Sünderin vor Augen führe: Eine Sünderin kam „mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl und trat von hinten an ihn heran. Dabei weinte sie und ihre Tränen fielen auf seine Füße. Sie trocknete seine Füße mit ihrem Haar, küsste sie und salbte sie mit dem Öl.“ (Lk 7,37f) … Das ist doch schon ein sehr erotisches Bild, oder?
Die Autorin ist Pastoralreferentin im Pfarrverband Dachau-St. Jakob