„Dann ist Gott ganz nahe“ – Interview mit Andrea Schwarz
In der katholischen Jugendarbeit fand Andrea Schwarz Antworten. Das Bild entstand vor 50 Jahren in der Aula der Uni Bielefeld und zeigt eine der damals beliebten „Ad-hoc-Diskussionsrunden“ im Stil der 1968er. Sie fand beim Kongress der katholischen Jugendarbeit im Erzbistum Paderborn 1972 in Bielefeld unter dem Motto „Erziehung als Befreiung – der junge Mensch als Partner“ statt. Der Kongress diente der Präsentation der Jugendverbände und der verschiedenen Angebote der katholischen Jugendarbeit im Erzbistum. Foto: Dokumentationsstelle für kirchliche Jugendarbeit/BDKJ-Diözesanverband Paderborn
„Wie hältst du es mit der Religion?“, fragt das Gretchen den Dr. Faust. In Zeiten der Kirchenkrise fragten wir in der Fastenzeit bei Menschen der Kirche nach. In der letzten Folge bei der bekannten Autorin Andrea Schwarz. Mit Andrea Schwarz sprach Claudia Auffenberg.
Frau Schwarz, gibt es einen Satz im Glaubensbekenntnis, über den Sie stolpern, der Ihnen schwer über die Lippen kommt?
Andrea Schwarz: „Ja, ‚zu richten die Lebenden und die Toten‘!“
Wo liegt das Problem?
Andrea Schwarz: „Mein Gottesbild ist ein anderes. Ich glaube, Gott ist die Liebe, wie es in einem Satz im 1. Johannesbrief heißt (1 Joh 4,8) – und nicht ein Richter! Und: Gott will mich in die Freiheit führen. Deutlich ist das in der Exodus-Geschichte zu sehen. Er führt weg von den Fleischtöpfen Ägyptens; zwar durch die Wüste, aber weg von der Sklaverei – der eigenen und der fremden. In Lukas 4,18 heißt es: ‚Ich bin gekommen, den Armen eine gute Botschaft zu bringen, die Gefangenen zu befreien, den Blinden das Augenlicht zu geben.‘ Das sind die Kernpunkte meines Gottesbildes: Er will mich zur Freiheit des Lebens und der Liebe führen.“
Gott ist die Liebe für Sie, was hat er mit den Bürden zu tun, die uns gerade aufgelastet werden?
Andrea Schwarz: „Nichts! Mumps und Masern gab es im Paradies nicht. Corona ist eine Weiterentwicklung dieser Viren und unterliegt den Naturgesetzen, in die Gott nicht eingreifen wird. Das gilt auch für das menschengemachte Böse wie den Ukraine-Krieg: Wenn Gott eingreift, werden wir Menschen zu Marionetten und hängen nur noch an seinen Fäden. Ein Gott, der die Freiheit des Menschen will, geht damit um, dass der Mensch auch sündig wird und Fehler macht. Wir schaffen die Autos ja auch nicht ab, weil manche damit Unfälle bauen, sondern wir versuchen, das durch Vorschriften wie die Straßenverkehrsordnung zu regeln. Ich halte die Frage an sich schon für falsch: Wir versuchen dadurch nämlich, das Kleine, Menschengemachte in Gott hineinzustellen und mit ihm in direkte Verbindung zu bringen. Das macht Gott aber klein, zieht ihn auf die Ebene von Viren und Panzern herunter. Meiner Meinung nach muss die Bewegung in die andere Richtung gehen: Wir stellen das Kleine, von Menschen gemachte in das Große, das Göttliche hinein. Dort gibt es Platz für Klage, Protest, Verzweiflung und Bitte. Aber immer, wenn wir die Frage stellen, was Gott damit zu tun hat, holen wir Gott auf unsere Ebene hinab. Das macht ihn klein.“
Was ist dann mit dem Bild des Vaters, das wir mit Gott verbinden: Ein Vater würde seine Kinder doch beschützen, wenn Gefahr droht, ohne sie in ihrer Freiheit einzuschränken.
Andrea Schwarz: „Eltern lassen ihre Kinder aber auch eigene Erfahrungen machen, sie ersparen ihnen nicht alles. Ein guter Vater und eine gute Mutter wissen, dass bestimmte Erfahrungen selbst gemacht werden müssen – auch weil Kinder ihren Eltern manches nicht abnehmen und erst durch eigene Erkenntnis dorthin gelangen.“
Das ist gerade in der aktuellen Situation aber brutal, wenn man auf die Frauen und Kinder in der Ukraine schaut: Sie sind unschuldig an dem Krieg.
Andrea Schwarz: „Diese Erfahrung mussten viele Menschen, viele Generationen machen: Meine Mutter ist im Januar 1945 aus Ostpreußen geflohen und hat auf der Flucht zwei Kinder verloren. Trotzdem hat sie an Gott geglaubt. Ich glaube, die unendliche Solidarität Gottes liegt darin, dass er Menschen im Dunkel begleitet. Man könnte das die Solidarität des Karfreitags nennen: ‚Ich als Gott kann euch dieses Leiden nicht nehmen, ich kann in manchen Situationen nicht eingreifen, ohne den Menschen die Freiheit zu nehmen.‘ Was Gott aber tut, ist, dass er seinen Sohn in die dunkelste Situation geschickt und uns so gezeigt hat: ‚Ich lasse euch nie allein, der Tod, das Dunkel wird nicht das letzte Wort haben.‘ Er geht uns voraus, der Auferstehung und Ostern entgegen. Das ist der Sinn des Karfreitags.“
Sie sprachen gerade von Ihrer Mutter: Hat sie Ihnen von Gott erzählt?
Andrea Schwarz: „Nicht explizit, der Glaube war Tradition, er gehörte einfach dazu, war selbstverständlich. Mit dem Ergebnis, dass ich mit 15 Jahren komplett vom Glauben weg war, weil niemand mir meine Fragen beantwortet hat. Das hatte aber den Vorteil, dass es Raum für ein völlig anderes Gottesbild gab. Es war nicht mehr belastet durch das Bild des Richters und durch die Vorstellung von der Sündhaftigkeit des Menschen. In diese Leere konnten die anderen Gottesbilder hineinkommen. Von den Fachbegriffen her kann man das als erste und zweite Naivität bezeichnen: In der ersten denkt man, Gott ist lieb, er tut alles, wenn man nur lange genug betet. Daran schließt sich die Phase des Zweifels an, z. B. weil Gebete nicht erhört werden. Für manche endet damit der Glauben. Andere aber finden in eine zweite Naivität: Das Grundvertrauen ist wieder da, aber man spricht nicht mehr vom ‚lieben Gott‘. Ich bete niemals ‚lieber Gott‘, denn Gott ist nicht lieb, er ist nicht der gute Onkel! Er ist radikal und existenziell, er fordert heraus.“
Wie beten Sie?
Andrea Schwarz: „Sehr persönlich, ich rede mit meinem Gott zu den unmöglichsten Zeiten und in den unmöglichsten Situationen. Manchmal sind es vorgegebene Gebete, wenn ich selbst keine Worte habe. Etwa in der Notfallseelsorge, zum Beispiel wenn eine Mutter gerade ihr Kind verloren hat. Da habe auch ich keine eigenen Worte mehr und rette mich ins ‚Vaterunser‘. Es kann aber sein, dass ich bei „dein Wille geschehe“ aufhören muss, weil ich das in der Situation nicht sagen kann.“
Haben Sie im Alltag ein festes Ritual für das Beten oder Meditieren?
Andrea Schwarz: „Nein, das ist für mich in das integriert, was ich im Alltag tue. Das kann das Entzünden einer Kerze sein für jemand, dem es nicht gut geht. Das kann bei Vorträgen oder Kursen sein, wenn ich Gott darum bitte, mich das sagen zu lassen, was eine Teilnehmerin oder ein Teilnehmer braucht. Es kann auch ein Stoßgebet sein, wenn ich zum Beispiel irgendwo warten muss: ‚Herr, zeig mir den Weg, ich will ihn gehen in Treue zu dir!‘ Es ist ganz kunterbunt und frei.“
Wie erfahren Sie Gott in Ihrem Leben?
Andrea Schwarz: „Auf mehreren Ebenen: etwa durch Menschen, in denen etwas von Gott aufleuchtet. Wenn Menschen manchmal Botschaften für mich haben, bei denen ich denke, kann sein, dass jemand anderes diesen Menschen das hat sagen lassen. Sicherlich auch in manchen Kirchen, in denen viel gebetet wurde, das sind für mich Orte, an denen ich Gott erfahre. Oder in der Natur: Ein Sonnenuntergang an der Nordsee berührt etwas in mir. Manchmal spüre ich Gott auch persönlich in mir: wenn ich zum Beispiel Erfahrungen mache, von denen ich denke, dass das nicht einfach so passiert ist und die sich oft schwer in Worte fassen lassen. Dann könnte es sein, dass Gott ganz nahe ist.“
Woran spüren Sie das, gibt es dafür so etwas wie Kriterien?
Andrea Schwarz: „Ich halte es da mit einer alten Ordensschwester, die mir einmal gesagt hat: ‚Ganz genau weiß man das nicht, aber ein Hinweis könnte es sein, wenn die Zeichen sich verdichten.‘ Warum mache ich zum Beispiel gerade an diesem Ort diese Erfahrung mit diesem Menschen? Man erlebt Situationen, über die man ins Nachdenken kommt, ob vielleicht mehr dahinterstecken könnte. Das können auch Momente sein, in denen man einfach ein gutes Gefühl in sich spürt; Augenblicke, in denen ich mich aufgehoben fühle und denke, auf dem richtigen Weg zu sein.“
Sie haben eben davon erzählt, dass Sie sich als Jugendliche vom Glauben verabschiedet haben, weil niemand auf Ihre Fragen antwortete. Wer hat Ihnen schließlich diese Antworten gegeben?
Andrea Schwarz: „Ich bin mit der katholischen Jugendarbeit in Kontakt gekommen und dort gab es einen Kaplan, einen Franziskaner. Er saß abends mit uns zusammen, wenn wir ein Bier zusammen getrunken haben. Er war einfach dabei und wollte uns nicht missionieren. Wenn es Fragen gab, hat er sie so gut er konnte beantwortet. Er konnte Jugendlichen das Gefühl geben, gebraucht zu werden; etwa in einer Jugendfreizeit oder bei der Leitung einer Gruppe. Dieses Gebrauchtwerden war der erste Schritt. Es ging weiter in den BDKJ-Stadtvorstand Wiesbaden, anschließend in die KjG-Diözesanleitung. Dort hatte ich das Glück, auf sehr überzeugende Priester zu treffen. Sie haben mir einen neuen Ansatz für meinen Glauben vermittelt, indem sie ihn selbst gelebt haben.“
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Sie sind in der Kirche bekannt, haben dort viele Kontakte. Wo begegnen Sie Menschen, die nichts mit der Kirche zu tun haben?
Andrea Schwarz: „Manchmal bei meinen Seminaren oder Kursen, wenn es Menschen sind, die sich mit Kirche schwertun, aber eine Sehnsucht nach dem Glauben und nach Spiritualität haben. Das ist nicht mehr deckungsgleich: Viele in der Kirche haben diese Sehnsucht nicht mehr, sie haben sich in einer Art kirchlichen Wohnlandschaft eingerichtet. Suchende treffe ich in den genannten Kontexten, auch wenn sie offiziell nicht mehr zur Kirche gehören. Viele Leserinnen und Leser meiner Bücher gehören nicht zum inneren Kreis der Kirche, sie bewegen sich eher in den Randbereichen. Solche Begegnungen gibt es auch im Freundes- und Bekanntenkreis, etwa bei Feiern, wenn andere mitbekommen, dass ich etwas mit Kirche zu tun habe: Dann kommen Fragen.“
Wenn Sie Ihr Leben mit dem von Menschen außerhalb der Kirche vergleichen: Wo merken Sie, dass Sie etwas anders machen?
Andrea Schwarz: „Ob ich etwas anders mache, weiß ich gar nicht. Aber ich habe ein Grundvertrauen und in Gott ein Gegenüber, an das ich mich mit meinem Protest und meiner Klage wenden kann. Ich spreche nicht in eine namenlose Leere hinein. Ich finde, es ändert die Qualität von Klagen oder auch vom Danken, wenn man ein Gegenüber hat und sich nicht die Frage stellen muss: Wo soll ich damit hin? Mein Grundvertrauen lässt mich manches gelassener angehen. Ich habe viele Bestattungen geleitet und bin der Meinung, dass man bei Angehörigen merkt, ob sie an einen Gott glauben und daran, dass ihre Verstorbenen bei ihm gut aufgehoben sind; oder ob ihnen das fehlt und sie sagen: Jetzt ist alles aus. Dann fehlt diese Grundgelassenheit.“
Wäre das ein Argument, für den Glauben zu werben?
Andrea Schwarz: „Ich weiß gar nicht, ob ich groß werben will. Ich halte es mit dem Zitat aus dem 1. Petrusbrief: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt.“ (1 Petr 3,15)
Wenn ich gefragt werde: „Wie kannst du so leben, wie du lebst?“, gebe ich gern Antwort. Aber ich will es auch niemandem ungefragt hinterhertragen, es muss schon Neugier und Interesse da sein. Ich versuche allerdings auch, so zu leben, dass Leute nachfragen. Im Moment fahre ich mit einem Schild auf dem Auto rum: ‚Tempo 100 – der Ukraine zuliebe‘. Ich mache daraus keine Mission, aber wenn ich gefragt werde, dann antworte ich. Ich habe auch einige kopierte Blätter im Auto, falls jemand mehr wissen möchte.“
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Was machen Sie, wenn Sie beim Glaubensbekenntnis an die Stelle kommen, die Sie eingangs genannt haben?
Andrea Schwarz: „Ich bete diesen Satz mit. In der Annahme oder Hoffnung, dass dahinter etwas Gutes steckt, das mir nur noch niemand erklärt hat.“
Anlass unseres Gespräches ist die aktuelle Kirchenkrise, in der viele die Kirche verlassen. Haben Sie schon einmal über einen Austritt nachgedacht?
Andrea Schwarz: „Nein! Vor über vierzig Jahren war ich Mitglied im Bundesausschuss der Katholischen jungen Gemeinde. Aufgrund eines Konfliktes um den damaligen Bundesleiter hat die Deutsche Bischofskonferenz diesem Gremium das Vertrauen entzogen, und da habe ich mir vorgenommen, dass mich niemand aus dieser Kirche hinauskriegt! Wenn man mich vorn hinauswirft, komme ich durch die Hintertür wieder herein.“
Warum?
Andrea Schwarz: „Ich will die Gestaltung dieser Kirche nicht anderen überlassen. Einfluss nehmen kann man nur, wenn man dabei ist.“
Andrea Schwarz wurde 1955 geboren. Nach einem Studium der Sozialpädagogik arbeitete sie zuerst als Dekanatsjugendreferentin im Erzbistum Freiburg, später als Diözesanleiterin des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend. Sie begann 1985 damit, Gedichte, Märchen und Erzählungen zu veröffentlichen. Ihr 1985 erschienenes erstes Buch „Ich mag Gänseblümchen“ wurde ein großer Erfolg. Andrea Schwarz gehört heute zu den meistgelesenen christlichen Autorinnen. Sie lebt in Steinbild im Emsland.
Das gesamte Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe des Dom.