„Das Lager war überall“
Im Sommer 1941 versuchten die Kriegsgefangenen im Stalag 326 in Erdhöhlen oder Erdbunkern zu überleben.
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Schloß Holte-Stukenbrock. 80 Jahre nach der Errichtung des Kriegsgefangenenlagers Stalag 326 soll in Stukenbrock-Senne eine Gedenkstätte für 60 Millionen Euro entstehen. Lange waren die sowjetischen Kriegsgefangenen eine vergessene Opfergruppe des Nationalsozialismus. Die Frage nach dem Sinn der Erinnerung bleibt. Noch immer sind die Wunden der Vergangenheit nicht geschlossen.
von Karl-Martin Flüter
Das Gras wächst schlecht auf der weiten Fläche, von der Sonne gelblich verbrannt, dazwischen der aschgraue Mutterboden der Senne. Zwischen den Birken und Eichen dominiert ein monumentales Denkmal des Künstlers Josef Rikus die parkähnliche Fläche, eine Kreuzgruppe, die Assoziationen weckt an das Drahtgitter eines Stacheldrahtzaunes.
Das hier könnte ein idyllischer Platz sein, gäbe es nicht die Geschichte dieses Ortes, die 36 Massengräber und die vielen Einzelgräber auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof in Stukenbrock-Senne, einem Dorf am Rand der Senne. Mindestens 16000 verstorbene sowjetische Kriegsgefangene wurden hier zwischen 1941 und 1945 im Sand verscharrt. Vielleicht waren es viel mehr, bis zu 65000 Menschen könnten es gewesen sein. Sie waren Insassen des Kriegsgefangenenlagers Stalag 326 (VI/K), verhungerten, starben an Fleckfieber-Typhus, wurden erschossen oder starben nach anderen Gewalttaten, erlagen den Folgen einer brutalen und gezielten Vernachlässigung.
Am 10. Juli 1941 trafen die ersten Kriegsgefangenen von der Ostfront hier ein. An den Beginn des Angriffs der deutschen Truppen am 22. Juni 1941 auf die Sowjetunion erinnert genau 80 Jahre später eine kleine Trauerstunde vor dem zentralen Denkmal auf dem Ehrenfriedhof. Der Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ hat eingeladen, der stellvertretende Generalkonsul aus Bonn sagt einige Worte. Hubert Kniesburges, Vorsitzender von „Blumen für Stukenbrock“, erinnert an die 27 Millionen Menschen, die der Krieg allein aufseiten der Sowjetunion forderte. Die toten Kriegsgefangenen in der Senne gehören dazu. Und doch waren sie lange Zeit eine fast vergessene Opfergruppe, weitgehend verdrängt vom Volk der Täter, aber auch von ihrem eigenen Staat, der sie für Kollaborateure hielt.
5,7 Millionen Soldaten der Sowjetunion gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft. 2,7 bis 3,3 Millionen Menschen überlebten die Gefangenschaft nicht. Ihr Tod war einkalkuliert. „Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad“, hatte Hitler seinen Generälen erklärt und die Wehrmacht – nicht nur die SS oder die Einsatzgruppen hinter der Front – hielt sich an den Freibrief zum Morden. Mit Absicht hatten die Wehrmachtsführer keine Vorbereitungen für die Massen an Gefangenen getroffen. Die Sowjetsoldaten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten, wurden in riesigen Lagern unter freiem Himmel eingepfercht. Es galt der strikte Befehl, ihnen keine Nahrung zukommen zu lassen.
Das war auch in der Senne so. Schon vor dem Russlandfeldzug, im Frühjahr 1941, richtete ein Vorauskommando in Stukenbrock-Senne ein Kriegsgefangenenlager ein. Für die Bewacher entstanden Baracken am Lagereingang. Die Soldaten fassten das 1000 Meter lange und 400 Meter breite Gelände mit einer Stacheldrahtumzäunung ein. Unterkünfte für die Kriegsgefangenen gab es nicht, nur den ausgedörrten Senneboden.
Das Lager erhielt die Bezeichnung Stalag 326 (VI/K). Die Abkürzung Stalag stand für „Mannschaftsstammlager“. Tatsächlich war das Stalag 326 ein zentrales Durchgangslager für den Wehrkreis VI, der in etwa das heutige NRW umfasst. Bis 1945 sollten 307 679 Rotarmisten das Unglück haben, das Stalag 326 kennenzulernen. Sie gingen nach wenigen Wochen, wenn sie überlebten. Ab 1942 wurden sie auch in einem Zeltlager untergebracht. Die Lebensbedingungen waren so katastrophal, dass allein in den letzten drei Monaten 1942 mehr als 5000 Menschen im Stalag 326 starben. Mehr als in jedem anderen Lager im Deutschen Reich.
Die ersten Kriegsgefangenen, die ab dem 10. Juli 1941 nach Stukenbrock-Senne kamen, hatten nicht mal Zelte. Sie gruben Erdhöhlen, in denen sie versuchten zu überleben. Auch als 1941 der Winter einbrach, waren nicht ausreichend Baracken errichtet. Fäkalien verunreinigten das Trinkwasser, Seuchen verbreiteten sich. Das Schlimmste war die völlig unzureichende Ernährung. Die Menschen verhungerten. Brutale Übergriffe der Bewachungsmannschaft gehörten zum Alltag. Sowjetische Offiziere wurden im Lager erschossen. Die Lage besserte sich erst, als die Bevölkerung eine Ausbreitung der Seuchen befürchtete und vor allem als sich der Gedanke durchsetzte, es könne von Vorteil sein, die Kriegsgefangenen nicht einfach nur sterben zu lassen, sondern als Arbeitssklaven zu nutzen.
Das Ausmaß der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das in der Senne zwischen Hövelhof und Stukenbrock geschah, ist so ungeheuerlich, dass es kaum zu verstehen ist, warum das Schicksal der Opfer so lange kaum bekannt war. Den Überlebenden des Lagers war es ein Anliegen, unmittelbar nach der Befreiung an ihre ermordeten Kameraden zu erinnern. Sie errichteten einen Obelisken mit drei Sowjetsternen und einer sowjetischen Fahne an der Spitze neben den Massengräbern, um ihren anonym gestorbenen Kameraden wenigstens posthum die Ehre zu erweisen.
Doch das Denkmal wurde in den folgenden Jahrzehnten vor allem ein Symbol dafür, dass es nicht um die Menschen ging, sondern um Politik. Vor den drei Sowjetsternen am Obelisken wollte kaum ein bundesrepublikanischer Politiker den sowjetischen Kriegsgefangenen gedenken. 1956 sollte der Obelisk sogar entfernt werden, wenn nicht britische und sowjetische Militärpolizei das Vorhaben gestoppt hätten. Die Arbeitsgemeinschaft „Blumen für Stukenbrock“, die seit 1967 an die Geschichte des Lagers erinnert, wurde als kommunistisch beeinflusst diskriminiert.
So wurde das Lager in Stukenbrock-Senne zum blinden Fleck der Geschichte. Es verschwand aus der Erinnerung, so wie immer mehr Baracken des Lagers abgerissen oder überbaut wurden. Nach 1945 nutzten die Briten das Stalag als Internierungslager für Nazi-Täter, dann zogen Flüchtlinge und Vertriebene des Zweiten Weltkrieges ein. Das Lager wurde zum „Sozialwerk“. Seit 1970 nutzt die Polizei des Landes NRW den Ort als Ausbildungsstätte. Einiges erinnert bis heute an das Stalag: die Lagerstraße, die sich immer noch schnurgerade über das Gelände zieht oder die „Entlausungsbaracke“, die die Gefangenen fürchteten. Die breite Öffentlichkeit, auch in der Region, wusste jedoch kaum etwas von der Geschichte dieses Ortes.
60 Millionen Euro für eine neue Gedenkstätte
Oliver Nickel, Historiker und Leiter der Gedenkstätte Stalag 326, ist auf dem Gelände der Polizeischule aufgewachsen. Sein Vater war Polizist und Ausbilder. Nickel kann sich gut an Baracken aus dem Stalag erinnern, die in den 1970er-Jahren noch standen. „Als Kinder haben wir auf dem Friedhof gespielt“, sagt er, „bis uns jemand sagte, dass es sich um Massengräber handelt. Wir wussten davon nichts.“
Der Besuch von Raissa Gorbatschow und Hannelore Kohl am 13. Juni 1989 war ein erstes Zeichen eines Perspektivwechsels. 1993 gründete sich ein Förderverein, der auf dem Gelände der Stalags die Gedenkstätte einrichtete, die Oliver Nickel leitet. Bundespräsident Joachim Gauck wählte das Stalag in Stukenbrock-Senne zum Ort seiner Rede, die er am 6. Mai 2015 zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges hielt. „Hier in Schloss Holte-Stukenbrock erinnern wir in dieser Stunde an eines der größten Verbrechen in diesem Krieg“, sagte der Bundespräsident: „Das ist hier geschehen. Und es ist ja nicht irgendwie ,geschehen‘. Es wurde ,gemacht‘, es wurde ,verübt‘, planmäßig und unfassbar.“
Die Rede Gaucks war die Initialzündung für einen Bewusstseinswandel auch in der Politik. Die Ergebnisse liegen heute als Konzepte und Machbarkeitsanalysen für eine neue, große Gedenkstätte vor. Sie soll für knapp 60 Millionen Euro bis Ende 2025 auf dem Stalag-Gelände entstehen. Im November 2020 bewilligte der Bundestag bereits 25 Millionen Euro für das Projekt.
Die Planer der neuen Gedenkstätte wollen vor allem den Charakter des Stalag 326 als Durchgangslager herausarbeiten. Weil die Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter auf Bauernhöfen, in mittelständischen Unternehmen, in kirchlichen Einrichtungen, im Bergbau und der Rüstungsindustrie eingesetzt wurden, waren weite Teile der Bevölkerung in das Wirken des Lagers eingebunden.
Das Schicksal der Kriegsgefangenen vollzog sich in aller Öffentlichkeit. Oliver Nickel erhält in der Gedenkstätte immer wieder Erinnerungsstücke, die Kriegsgefangene oft als Auftragsarbeiten oder als Geschenke für deutsche Zivilisten anfertigten: Schnitzereien, Bilder, Wandteller oder kunstvoll gebastelte „Russenkästchen“. Oft werden die Objekte von Zeitzeugen aus der Region abgegeben. Die Gewalt gegen die Kriegsgefangenen und ihre Entrechtung haben sie auch als Kinder wahrgenommen. Was sie sahen, beschäftigt sie oft bis heute. Nickel kennt die Geschichte von einem Jungen, der auf einer Wiese neben dem Friedhof Schafe hütete und Tag für Tag beobachtete, wie die Leichen in die Massengräber geworfen wurden. „Das Lager war nicht nur der umzäunte Bereich“, sagt er. „Das Lager war überall.“
Dieter Wegener aus Augustdorf sucht „verwundete Orte“ wie den Ehrenfriedhof auf, um hier zu meditieren. „Solche Orte laden geradezu zur Stille und zum schweigenden Dasein ein“, sagt er. Wenn er hier meditiere, geschehe etwas allein durch die „pure Präsenz“: „Für mich sind verwundete Orte wie Lehrer.“
Wegener hat an der Gedenkfeier zur Erinnerung an den Überfall auf die Sowjetunion teilgenommen. Dass dabei vor allem über Politik geredet wurde, irritiert ihn. Es werde sich nichts ändern, wenn man immer wieder politische Argumente austausche, sagt er. Der Friedhof und die Erinnerung an die entrechteten Menschen, die hier liegen, „lassen mich spüren, dass alles mit allem verbunden ist“. Die Erinnerung sei auch ein religiöses Anliegen. „Dass keine Vertreter der großen Religionen an der Veranstaltung teilgenommen haben, finde ich bedauerlich“, sagt Wegener. Als er Hubert Kniesburges, den Vorsitzenden des Arbeitskreises „Blumen für Stukenbrock“ anspricht, reagiert der mit einem Schulterzucken. Der Kontakt vor allem mit der katholischen Kirche sei schlecht.
36 Steine für 36 Massengräber
Wegener findet, bei der Planung für die Gedenkstätte müssten die Entscheidungsträger unbedingt an einen Raum der Stille denken. Bislang ist im Marketingkonzept für die neue Gedenkstätte davon nicht die Rede, sondern eher von der touristischen Attraktion, die von einem solchen Projekte ausgehen könnte. Mit bis zu 200000 Besuchern wird gerechnet.
Aber die Trauer ist bis heute auf dem Ehrenfriedhof gegenwärtig. Immer wieder kommen Menschen aus Russland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, um zu sehen, wo ihre Angehörigen starben. Es sind auch die Enkel und Urenkel der Männer, die 1941 erschöpft und ausgehungert ungläubig auf die offene Wiese vor ihnen schauten, auf der sie überleben sollten. Die Täter haben die Ankunft der Gefangenen wie vieles andere aus dem Lagerleben auf Fotos und Filmen festgehalten.
Das Team der Gedenkstätte begleitet die Gäste aus Russland zu den Massengräbern. Die Trauernden können an einem der 36 Steine am Rand der Fläche Blumen oder Erde aus der Heimat niederlegen oder eine Kerze entzünden. Jeder Stein steht für eines der 36 Massengräber, jedes von ihnen etwa 110 Meter lang und 2,20 Meter breit. In ihnen stapelten Trupps von Gefangenen die zu Skeletten ausgehungerten Leichname Schicht auf Schicht. Dass den Menschen selbst im Tod die Würde genommen wurde, ist die Geschichte dieses Ortes. Eine Geschichte, die bleibt, auch wenn sie lange vergessen war.