Demokratie ist das Normale – Dr. Peter Liese blickt auf die Kirche
Dr. Peter Liese hier beim Katholikentag in Stuttgart im vergangenen Jahr. (Foto: Harald Oppitz/KNA)
Über die Zukunft der verfassten Kirche wird nicht nur in der Theologie oder in kirchlichen Gremien geredet. Auch „normale“ Katholiken machen sich Sorgen. Was können sie aufgrund ihrer Expertise aus anderen Bereichen beitragen? Darum geht es in dieser Gesprächsreihe. Heute: Dr. Peter Liese, MdEP.
Herr Dr. Liese, wie sehen Sie als Politiker die Kirche, die ja nach wie vor Ihre Kirche ist?
Peter Liese: Ich sehe das, was in der Kirche passiert, und den Blick, den die Menschen auf sie haben, mit ganz, ganz großer Sorge. Seit Jahren sinkt die Akzeptanz dessen, was die Kirche sagt. Das macht mich traurig, weil wir in vielen ethisch-moralischen Fragen eine Stimme brauchen, die nicht nur interessengeleitet, sondern auch wertegebunden ist. Aber auch durch eigene Fehler hat die Kirche an Gewicht verloren und das macht mir große Sorgen.
Würden demokratische Prinzipien ihr jetzt helfen?
Peter Liese: Davon bin ich überzeugt!
Und warum würden sie helfen?
Peter Liese: Zunächst einmal kennen die Menschen die aus ihrem Alltag. Es gibt Betriebsräte, der Bürgermeister wird gewählt und selbst in der Schule wird der Klassensprecher nicht einfach von irgendwem ernannt, sondern von der Klasse gewählt. Das ist das Normale. In der Politik haben wir leidvolle Erfahrungen gemacht, was passiert, wenn Demokratie außer Kraft gesetzt wird. Daher ist es begründungspflichtig, wenn man nicht demokratisch handelt. Es gibt viele Probleme, die sich überlagern. Aber wenn das Image erst einmal angekratzt ist – und das ist es durch den Missbrauchsskandal – dann guckt man auf viele Dinge kritischer. Und es ist schwer zu verstehen und aus der Bibel auch nicht abzuleiten, dass wir dieses hierarchische Prinzip haben, dass viele Frauen, die sich in der Kirche engagieren, zu wenig mitbestimmen können. Das ist ein Teil des Problems, eine Beseitigung dessen, vielleicht auch nur teilweise, würde helfen.
Sie haben den Missbrauchsskandal angesprochen: Verbrechen Einzelner schlagen auf das ganze Gebilde zurück. Dieses Phänomen kennen Sie auch aus der Politik. Was tun Sie persönlich für Ihre Glaubwürdigkeit?
Peter Liese: Ich versuche, täglich meine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen zu machen. Wenn es Fehlentwicklungen gibt, muss man gucken, wie man die systematisch reduzieren kann. Das müssen wir aktuell im Europäischen Parlament tun. Wir haben schon strenge Regeln, aber wir haben sie nun noch einmal strenger gefasst, um solche Skandale, wie sie jetzt um die Vizepräsidentin passiert sind, zu vermeiden. Bislang musste man nur Treffen mit Wirtschaftsvertretern und anderen „Lobbyisten“ melden, aber nicht mit Vertretern von Drittstaaten, das war ein Manko. Darüber muss man jetzt nachdenken. Allerdings kann man damit die kriminelle Energie Einzelner nie komplett ausschalten.
Beim Missbrauchsskandal gibt es noch ein zusätzliches Problem: dass die Struktur indirekt Probleme mit sich bringt. Zum einen die Hierarchie. Die haben wir zwar in der Politik auch, aber da hat man immer die Möglichkeit, beim nächsten Parteitag die Spitze herauszufordern oder jemanden anderes zu wählen. Das ist in der Kirche nicht möglich. Und mehrere Gutachten legen inzwischen nahe, dass durch den Zölibat Männer angezogen werden, die mit ihrer Sexualität nicht im Reinen sind. Das darf man auf keinen Fall pauschalisieren, aber es gibt sicher Fälle, bei denen das so ist. Und das muss man ernst nehmen!
Die ganze Situation führt dazu, dass Priester pauschal unter Verdacht stehen. Wir hören, dass manche als Kinderschänder beschimpft werden, bloß weil sie als Priester erkennbar sind. Unter einem solchen Generalverdacht stehen Sie als Politiker ja auch und kennen das womöglich …
Peter Liese: Ja, und das finde ich ganz schlimm! Unabhängig von uns Politikern, ich finde das für die katholischen Laien schlimm. In den Monaten nach dem Bekanntwerden des Skandals hatte ich Gelegenheit, mit Angela Merkel und dem damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler zu sprechen. Ich habe sie um ein Statement gebeten, in dem klargestellt wird, dass es in der Kirche viele Laien gibt, die damit nichts zu tun und es nicht verdient haben, pauschal verurteilt zu werden. Das gilt auch für Priester, aber eben besonders für Laien, die dafür beschimpft werden, dass sie noch in der Kirche sind. Da geht deren wichtiges Tun für die Gesellschaft komplett unter. Darauf hinzuweisen, halte ich für genauso wichtig wie auf die Probleme, die es ohne Zweifel gibt.
Wie gehen Sie persönlich mit Beschimpfungen um? Als Politiker sind Sie einer von „denen da oben“, und somit mutmaßlich korrupt und verlogen.
Peter Liese: In letzter Zeit bin ich positiv überrascht, dass es mich nicht getroffen hat, obwohl es im EU-Parlament diese Skandale gab. Aber ich nehme mir solche Sachen schon zu Herzen. Wichtig ist, dass man Leute hat, die einen gut kennen und es einem sagen, wenn man wirklich etwas falsch macht, aber die einen auch vor unberechtigter Kritik in Schutz nehmen.
Wie pflegen Sie die Nähe zu den Menschen in Ihrem Wahlkreis?
Peter Liese: Das ist eine Herausforderung, denn ich habe nicht nur meine Region Südwestfalen mit fünf Landkreisen, sondern auch die Kreise Paderborn und Höxter. Da es im Moment in Ostwestfalen-Lippe keinen CDU-Abgeordneten gibt, muss ich auch das Hochstift mitbetreuen. Da kann ich natürlich nicht jede Woche in jedem Ort sein, aber mir ist es schon wichtig, regelmäßig zu kommen. Wenn mir jemand ein Anliegen vorträgt und meint, darüber müssten wir mal vor Ort sprechen, dann kriege ich das immer hin. Das kann manchmal etwas dauern, und wenn es nicht anders geht, kann man das heutzutage auch über Videokonferenzen lösen.
Aber mein Prinzip ist: Wenn jemand ein berechtigtes Anliegen hat, das mit Europa zu tun hat, dann komm ich, sobald es die Zeit erlaubt. Außerdem lebe ich in der Region. Das ist mir sehr wichtig, dass ich vor Ort im Alltag mitbekomme, was los ist. Anfang dieses Jahres habe ich ein paar Tage in der Paderborner Kinderklinik mitgearbeitet. In der war ich früher als Arzt tätig. Die hatten einen Notruf gestartet, weil sie akut Personal brauchten. Es bringt sehr viel, wenn man nicht nur als Abgeordneter erscheint, sondern auch an den alltäglichen Dingen beteiligt ist.
Gehen Ihnen die Wähler manchmal auch auf die Nerven?
Peter Liese: (lacht) Aber nur ganz wenige! Ich finde es immer sehr angenehm, viele Menschen zu treffen. Die Auseinandersetzungen sind insgesamt härter geworden, aber persönlich habe ich den Eindruck, dass meine Arbeit mehr wertgeschätzt wird. Vielleicht, weil ich schon so lange dabei bin und die Leute sich immer noch an Dinge erinnern, die ich mal hinbekommen habe. Die große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ist konstruktiv und freundlich … und Ausnahmen bestätigen die Regel.
Es gibt in der Kirche ein Thema, bei dem Sie sich als Europaabgeordneter auf jeden Fall auskennen: Wie geht Einheit in Vielfalt?
Peter Liese: Oh ja, ein ganz wichtiges Thema! Da verweise ich auf die Subsidiarität, ein Kernelement der katholischen Soziallehre. Bestimmte Dinge, die nicht zwangsläufig auf der oberen Ebene geregelt werden müssen, werden auf der unteren geregelt. Konkret: dass wir uns als EU nicht in die Kommunalpolitik einmischen. Es ist also wichtig, das zu respektieren, was vor Ort geregelt werden kann und damit der Vielfalt eine Chance zu geben.
Aber umgekehrt heißt Subsidiarität auch, dass Dinge, die auf der unteren Ebene nicht befriedigend geregelt werden können, auf die nächsthöhere Ebene gezogen werden müssen. In der Kirche gibt es eine große Vielfalt, die ich sehr positiv finde. Ich habe als Arzt einmal in Guatemala gearbeitet. Im Dschungel gab es katholische Messen, deren Struktur ich zwar erkannt habe, aber ich konnte die Sprache nicht und die Musikinstrumente kannte ich auch nicht. Auch wenn kein Priester dabei war, haben die Gottesdienste zwei, drei Stunden gedauert. Diese Vielfalt muss man zulassen, auch innerhalb eines Landes. Andere Gottesdienstformen, Gottesdienste ohne Priester – da müssen wir lernen.
Auch bei den Reizthemen, bei denen immer schnell zur Keule „Weltkirche“ gegriffen wird. Weil man sagt, in einzelnen Teilen der Welt werde das nicht verstanden, wenn Frauen Dienst am Altar tun oder Homosexuelle gesegnet werden. Da würde uns die Vielfalt guttun. Als deutsche Katholiken sind wir damit nicht allein. Es gibt auch andernorts Bewegungen, die ähnliche Thesen vertreten, auf anderen Kontinenten und in anderen europäischen Ländern allemal. Mich hat schon lange die Frage beschäftigt, ob es wirklich der Kern unseres Glaubens ist, dass man Homosexuelle nicht segnen sollte. Und ich komme immer mehr zu der Ansicht, dass das nicht der Kern ist. Und dass man das in Deutschland anders handhaben kann als in anderen Teilen der Welt. Hier täte uns ein bisschen Subsidiarität gut. In dem Sinne: Das ist nicht das Kernthema. Daher kann das in Deutschland anders laufen als an anderen Orten in der Welt.
Was ist denn aus Ihrer Sicht der Kern unseres Glaubens?
Peter Liese: Der Kern sind die Zehn Gebote, die Bergpredigt und das Vaterunser. Darin steht nirgendwo, dass Frauen kein Amt bekleiden und Homosexuelle nicht gesegnet werden dürfen.
Wie kann Einheit in Vielfalt organisiert werden: in der Demokratie oder in der Hierarchie?
Peter Liese: Besser in der Demokratie, denn wenn man vor Ort über Dinge abstimmt, die Vielfalt erlauben, hat man Akzeptanz und man wird der Situation der Menschen vor Ort besser gerecht.
Das erfordert die hohe Kunst des Kompromisses und da sagt Rom, der sei nicht möglich, etwa weil man nicht die Vollmacht besitze, Frauen zu Priestern zu weihen.
Peter Liese: Ich bin kein Theologe, aber das ist aus meiner Sicht falsch. Die Frage ist: Wer interpretiert Gottes Willen? Mein Fraktionsvorsitzender hat mir von einer Diskussion mit einem deutschen Kardinal in Rom erzählt, in der das Argument kam: „Das hat Gott entschieden, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren.“ Das halte ich für eine Anmaßung! Ein Mensch, der weiß, was Gott will und das besser als alle anderen Menschen zusammen, der maßt sich etwas an, was Menschen sich nicht anmaßen dürfen – egal, in welcher Position sie sind. Was Gott will, das weiß er allein. Wir Menschen können immer nur dafür beten, dass wir möglichst nah herankommen. Wir können nicht anderen sagen: Ich weiß, was Gott will, und du hast keine Ahnung.
Haben Sie schon einmal über einen Kirchenaustritt nachgedacht?
Peter Liese: Nein, persönlich nie! Das kommt für mich nicht infrage. Aber leider treffe ich immer mehr Menschen, für die das infrage kommt, das macht mich traurig und es macht mir große Sorgen.
Was ist Ihr Argument, drinzubleiben?
Peter Liese: Für mich ist die Kirche ein Halt. Ich kann es mir nicht vorstellen, ohne die Kirche zu leben. Gerade meine Erfahrung in Guatemala hat mich sehr bestärkt, weil ich dort erlebt habe, dass es am anderen Ende der Welt Menschen gibt, die an denselben Gott glauben wie ich und – wenn auch mit anderer Sprache und mit anderer Musik – dieselbe Botschaft zum Ausdruck bringen. Das ist und bleibt mir sehr wichtig.
Mit Peter Liese sprach Claudia Auffenberg
Info
Dr. Peter Liese wurde 1960 in Olsberg geboren. Nach seinem Abitur bei den Benediktinern in Meschede studierte er Medizin und wurde Arzt. Er arbeitete zunächst für sechs Monate in Lateinamerika, dann in der Paderborner Kinderklinik und anschließend in einer Gemeinschaftspraxis im Sauerland. Schon in seiner Jugend engagierte er sich politisch und wurde zunächst Mitglied der Jungen Union, später der CDU. Er war Ratsherr in Bestwig und ist seit 1994 Mitglied des Europäischen Parlamentes. Seit 1996 ist er Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK).
Den letzten Beitrag aus der Reihe finden Sie hier: