Der Beginn einer Insolvenzwelle?
Das St. Vincenz-Krankenhaus Paderborn ist neben der Frauen- und Kinderklinik St. Louise und dem St. Josefs-Krankenhaus Salzkotten einer von drei Standorten der St. Vincenz-Krankenhaus GmbH. (Foto: Patrick Kleibold)
Die Insolvenz der St. Vincenz-Krankenhaus GmbH hat die Menschen im Erzbistum Paderborn beunruhigt. Für das Vincenz gibt es einen Plan aus der Krise, doch die Krankenhauslandschaft leidet weiter unter unzumutbaren Rahmenbedingungen. Es droht vor allem in NRW eine Insolvenzwelle.
Paderborn. Die Nachricht traf die Mitarbeitenden der St. Vincenz-GmbH, die Menschen im Paderborner Land, die Politiker in Stadt und Kreis wie ein Schock. Die Vincenz-Trägergruppe, mit drei Standorten in Paderborn und Salzkotten und 2 700 Mitarbeitenden der größte Anbieter von Gesundheitsversorgung im Kreis Paderborn, meldete Ende Juli Insolvenz an. Zwar hatten die Mitarbeitenden schon einige Wochen zuvor bei einer Versammlung erfahren, dass die finanzielle Situation eng sei, und auch die kurzfristige Trennung von Geschäftsführer Josef Düllings im Juni ließ aufhorchen. Aber eine Insolvenz? Daran hatte niemand glauben wollen.
Seitdem fragen sich die Menschen in der Region, wie das geschehen konnte: Wie konnte ein gut belegtes, manchmal sogar überbelegtes Krankenhaus zahlungsunfähig werden? Wie kann es sein, dass eine derart wichtige öffentliche Einrichtung wie ein Krankenhaus überhaupt in die Insolvenz geraten kann?
Ökonomisierung der Gesundheitsstrukturen
Die Fragen sind mit einem Satz zu beantworten. Krankenhäuser können pleite gehen, weil sie Wirtschaftsunternehmen geworden sind – Folgen einer jahrzehntelangen Ökonomisierung von Gesundheitsstrukturen, die von katholischen Orden wie den Vincentinerinnen, Trägerinnen der St. Vincenz-GmbH, nie gewollt waren.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet das katholische Vincenz einer Entwicklung zum Opfer fällt, die von (katholischen) Kritikern stets beklagt wurde. Die Insolvenz ist eine Folge der bundesweiten Vernachlässigung der Gesundheitsstrukturen durch die Politik nach dem Motto „Der Markt wird es schon richten“. Dass Gesundheit ein wertvolles Allgemeingut ist und durch die Würde des Menschen geschützt ist: Diese Überzeugung drohte zum Lippenbekenntnis zu werden.
Kosten stiegen um das „Vierfache“
Wie es zu der Insolvenz kam, hat Vincenz-Geschäftsführer Jürgen Thau in einem Zeitungs-Interview beschrieben. Das Vincenz habe seit 2017 immer einen „einstelligen Millionenbetrag“ an Schulden vor sich hergeschoben. Mit der Energiekrise kamen plötzlich enorme Belastungen hinzu. Offensichtlich hatte das Vincenz das Pech, dass exakt in der Phase der Energiehöchstpreise 2022 alte Energieverträge ausliefen und neue Verträge abgeschlossen werden mussten. Diese Kosten sollen um das „Vierfache“ gestiegen sein.
Mit der Inflation stiegen die Preise weiter, teilweise um einen zweistelligen Prozentsatz, so Thau, und das ohne Gegenfinanzierung durch die Bundespolitik oder die Kassen. Weitere Belastungen waren voraussehbar, etwa der Inflationsausgleich für Mitarbeitende, den auch das Vincenz zahlt. Ebenfalls ohne Refinanzierung. So setzte sich eine berechenbare Dynamik in Gang: Das Kontokorrent stieg und stieg. Irgendwann war die Dispogrenze so ausgereizt, dass die Hausbank von St. Vincenz, die kirchennahe Bank für Kirche und Caritas, die Reißleine zog. Die Insolvenz war unvermeidlich.
Schicksal könnte noch viele andere Krankenhäuser treffen
„Insolvenz ist immer ein schlechtes Wort“, räumt Vincenz-Geschäftsführer Jürgen Thau ein. Man könne froh sein, dass es sich um eine Insolvenz in Eigenverwaltung und keine ungeregelte Insolvenz handele, bei der auch der freigemeinnützige Träger, die „Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vincent von Paul“, in finanzielle Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Dank der Insolvenz in Eigenverwaltung könne man schon bald entschuldet und wieder investitionsfähig sein. Die Gehälter der Mitarbeitenden werden seit Juli für drei Monate von einem Fonds der Krankenhäuser zur Verfügung gestellt und über das Arbeitsamt ausgezahlt. Auch das hilft enorm.
Das Schicksal der Zahlungsunfähigkeit könnte in den kommenden Monaten noch viele Krankenhäuser treffen. Das Vincenz war früh betroffen, weil dort die finanziellen Reserven besonders gering waren. Fachleute in der Gesundheitsbranche rechnen mit einer möglichen Insolvenzwelle, die auf die Häuser zurollt. Nordrhein-Westfalen könnte besonders betroffen sein, weil es in diesem Bundesland die meisten freigemeinnützigen, konfessionellen Krankenhausträger gibt.
Jede Stunde fast 200.000 Euro neue Schulden
200 katholische und evangelische Kliniken befinden sich in NRW, allein 52 Standorte davon im Erzbistum Paderborn. Sie können nicht darauf hoffen, dass ihre Millionendefizite von Kommunen aufgefangen werden. In Bielefeld gleicht die Stadt fast 25 Millionen Euro Schulden der städtischen Kliniken aus, in Köln sind es 60 Millionen. Die Verschuldung der Vincenz-Kliniken ist deutlich geringer. Doch das Erzbistum Paderborn springt nicht ein.
Nicht nur im Vincenz, sondern überall in NRW wächst die Schuldenlast der Krankenhäuser unablässig. Allein in Nordrhein-Westfalen belief sich die Schuldensumme am vergangenen Sonntag um 12.15 Uhr auf 1.835.269.320 Euro. Seitdem sind rechnerisch jede Stunde fast 200.000 Euro neue Kredite hinzugekommen. So meldet es die Homepage der KGNW, der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen.
Unter der Überschrift „Alarmstufe Rot“ zitiert die Krankenhausgesellschaft eine Umfrage, nach der schon vor einem Jahr 96 Prozent der Krankenhäuser die gestiegenen Kosten nicht mehr aus den laufenden Einnahmen bezahlen konnten. Mittlerweile seien fast ein Drittel der Krankenhäuser insolvenzgefährdet.
Zweifel an der neuen Krankenhausreform
Die Zahl der Krankenhäuser schrumpfte seit 1991 von etwa 2.400 auf aktuell wenig mehr als 1.900. Auch Fachleute wie Andreas Klausing vom Referat Krankenhäuser im Caritasverband für das Erzbistum Paderborn (DiCV) oder Christian Larisch, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der katholischen Krankenhäuser im Erzbistum, bezweifeln, dass sich an dem Trend vorerst etwas ändern wird. Am wenigsten setzen sie auf die Politik, vor allem auf die Krankenhausreform, die Gesundheitsminister Karl Lauterbach angekündigt hat.
Lauterbach will das bisherige System der Fallpauschalen beenden. Die Kliniken sollen, so der Gesundheitsminister, 60 Prozent der Vergütung allein schon für das Vorhalten von Leistungsangeboten erhalten. Gleichzeitig werden die Kliniken in Versorgungsstufen, „Level“, unterschieden: nach Häusern der medizinischen Grundversorgung und der Ambulanz sowie nach Schwerpunktkliniken, die auch komplizierte Behandlungen übernehmen.
Andrea Klausing glaubt nicht, dass diese Maßnahmen wie angekündigt am 1. Januar 2024 tatsächlich anlaufen. Selbst wenn, würde die Einnahmeseite der Häuser weiter unterfinanziert oder sehr knapp bleiben, befürchtet auch Christian Larisch. Einsetzen können die möglichen positiven Wirkungen einer solchen Reform frühesten 2025 oder 2026, wenn nicht später. Man könne die aktuelle Krise der mangelnden Finanzierung von medizinischen Leistungen nicht durch eine langfristig wirkende Strukturreform beheben.
Die Kliniken kämpfen mit sinkenden Patientenzahlen
Bis 2025 oder später könnten es viele Krankenhäuser unabhängig von der Trägerschaft nicht schaffen. Vor allem der von der Bundesregierung ins Spiel gebrachte Inflationsausgleich von bis zu 3.000 Euro für jeden Mitarbeitenden wird die Häuser in diesem und im nächsten Jahr belasten. Diese Summe ist zwar steuer- und sozialversicherungsfrei, wird jedoch weder von der Politik noch von den gesetzlichen Krankenkassen refinanziert.
Zudem, so Christian Larisch, kämpfen die Kliniken nach Corona mit einem Rückgang der Patientenzahlen von durchschnittlich 15 Prozent und entsprechenden fehlenden Einnahmen. Dafür würden jetzt mehr schwere Fälle behandelt. „Es sieht so aus, als kommen die Leute später mit ihren Krankheiten zu uns“, sagt er.
Andererseits fehlen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das hat nicht nur eine Überbelastung der Mitarbeitenden, sondern reale Einbrüche bei den Einnahmen zur Folge. Wenn laut Pflegepersonal-Untergrenze-Verordnung keine ausreichende Zahl von qualifizierten Pflegekräften nachgewiesen werden kann, müssen Stationen geschlossen werden – mit den entsprechenden Konsequenzen für die Häuser.
Die St. Vincenz Kliniken in Paderborn und Salzkotten könnten, gerade weil sie so früh betroffen waren und sich neu aufstellen müssen, die zukünftigen Aufgaben besser als andere Häuser bewältigen.
Dennoch wird die GmbH auch nach der Entschuldung vor großen Aufgaben stehen. Ein Beispiel: Die Kinderklinik St. Louise, eine der größten und besten in NRW, arbeitet in veralteten Klinikgebäuden. Der Finanzbedarf für bauliche Verbesserungen liegt bei mehr als 50 Millionen Euro. Bei einem Neubau wäre mehr als das Doppelte fällig. Bislang hat sich das Land nicht zu einer finanziellen Förderung bereit erklärt.
Zusammenschluss mit anderen Trägern?
Noch ist der Orden über die „Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vincent von Paul“ alleiniger Gesellschafter der Kliniken. Ein Zusammenschluss mit anderen Krankenhäusern und Trägern könnte Synergieeffekte ergeben und die finanziellen Rücklagen sichern. Diese Entwicklung zu übergreifenden Trägerstrukturen hat andernorts in NRW schon eingesetzt.
Der Status als freigemeinnützige Einrichtung könnte dem St. Vincenz bei einer Fusion bleiben – damit bliebe auch die katholische Tradition des Hauses erhalten, die mit der Existenzkrise in den vergangenen Wochen nach mehr als 180 Jahren ernsthaft in Gefahr geraten ist.
Seit 1841 betreiben die Barmherzigen Schwestern Krankenhäuser in Paderborn. Alles haben sie seitdem erlebt und überlebt: Kriege, eine Diktatur, Inflationen und immer wieder politische Reformen. Eine Insolvenz ist neu. Doch kann niemand beantworten, ob und wie diese Erfahrung zum Wendepunkt in der langen Geschichte von Orden und Krankenhaus wird.
Karl-Martin Flüter
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