Der strenge Mönch der modernen Kunst
Arbeit am Erbe von Josef Rikus: Ursula Pütz und Hans-Ulrich Hillermann mit Fotos aus dem privaten Nachlass der Künstlerfamilie. Foto: Flüter
Elisabeth Rikus-Dee, Nichte des Künstlers, mit einem der Werke aus der Ausstellung in der Herz-Jesu-Kirche, den tanzenden Mädchen. Foto: Flüter
Erzbistum Paderborn. 30 Jahre nach dem Tod von Josef Rikus erinnert eine Ausstellung in der Herz-Jesu-Kirche in Paderborn an das Werk des Künstlers. Die Schau ausgewählter Werke nimmt dabei besonderen Bezug auf den Ausstellungsort. Der Bildhauer Josef Rikus hat den Innenraum der Herz-Jesu-Kirche umgestaltet und Entwürfe für den Ausbau des Kirchturmes angefertigt. Dass er sich mit seinen Plänen nur bedingt durchsetzte und den Rückbau einzelner Werke erleben musste, ist nicht typisch für das Lebenswerk des wohl bekanntesten Paderborner Künstlers der Gegenwart.
von Karl-Martin Flüter
Ihr Aha-Erlebnis hatte Ursula Pütz, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Diözesanmuseum Paderborn, auf dem Weg zur Arbeit. Während der Vorbereitung der aktuellen Rikus-Ausstellung in der Herz-Jesu-Kirche Paderborn wurde ihr klar, dass auch ein Teil der Fassade der Paderborner Stadtverwaltung von Josef Rikus gestaltet worden war. Jahrelang sei sie ahnungslos an dem Kunstwerk vorbeigefahren, gesteht sie, bis ihr klar wurde: „Mensch, das ist ja ein Rikus.“
Rikus ist in Paderborn einfach überall – auch da, wo man ihn nicht vermutet. Diese Erfahrung dürften viele Paderborner mit Ursula Pütz teilen. Nur ein wenig eingeschränkt gilt das für das gesamte Erzbistum. 30 Jahre nach seinem Tod bleibt Josef Rikus einer der wichtigsten bildenden Künstler Ostwestfalens seit dem Zweiten Weltkrieg – ein ungemein produktiver Künstler noch dazu.
Auf 700 bis 800 Werke schätzen Ursula Pütz und ihr Kollege, der Kunsthistoriker Hans-Ulrich Hillermann, das Gesamtwerk. Die Wissenschaftler sitzen in einem Büro in der Michaelstraße, einer Nebenstelle des Diözesanmuseums in Paderborn, zwischen Karteikästen und Registermappen, die das künstlerische Erbe von Josef Rikus enthalten: Fotos, Entwurfszeichnungen, Verträge und Korrespondenzen mit Auftraggebern.Hans-Ulrich Hillermann ist damit beschäftigt, die große Menge an Dokumenten zu erfassen und zu katalogisieren. Bei dieser Arbeit kann er sich auch auf die Ergebnisse einer Bestandsaufnahme der Kunst im Erzbistum Paderborn stützen. Schon als diese Inventarisierung beendet wurde, war deutlich, „wie präsent Josef Rikus mit seinen Kunstwerken im Erzbistum Paderborn ist“, erinnert sich Ursula Pütz.
Rikus’ Frau Anneliese, eine ausgebildete Fotografin, hat die Entstehung vieler Arbeiten mit ihren Fotografien kongenial begleitet. Die Sammlung dieser Fotos zusammen mit Briefen und anderen Dokumenten hat Elisabeth Rikus-Dee, eine Nichte von Josef Rikus, dem Diözesanmuseum übergeben. Danach konnte Hans-Ulrich Hillermann daran gehen, die privaten Unterlagen mit der Inventurliste des Bistums abzugleichen. 2023, zum 100. Geburtstag von Rikus, will das Erzbischöfliche Diözesanmuseum ein Gesamtverzeichnis vorlegen.
Der 1989 im Alter von nur 66 Jahren verstorbene Josef Rikus hat für sein beeindruckendes Gesamtwerk hart und aus tiefster Überzeugung gearbeitet. „Wenn das, was ich hier tue, Gebet ist, dann bin ich ein strenger Mönch“, sagte Rikus über sein Schaffen. Das galt nicht nur für seine religiöse Überzeugung, sondern auch für seine Lebensführung. Rikus war ein harter Arbeiter, fast ein Getriebener, der unablässig neue Ideen umsetzte. Fotos zeigen ihn noch kurz vor seinem Tod bei der Arbeit in seinem Atelier.
Am Anfang seiner Karriere wurde man in Paderborn auf den jungen Künstler aufmerksam, als dieser sich an einem Wettbewerb für ein Mahnmal zum Gedenken an die Toten von Krieg und Gewalt beteiligte. Der in Paderborn geborene, aber zum Zeitpunkt der Ausschreibung in München lebende Rikus erhielt 1952 den Auftrag, seinen Entwurf auszuführen. Die Arbeiten an dem Denkmal führten dazu, dass der Künstler zurück in seine ostwestfälische Heimat zog – und sich zugleich mit einer Diskussion über seine Arbeit im Speziellen und Mahnmale im Allgemeinen konfrontiert sah.
Der Paderborner Rat hatte sich mit Vertretern der ehemaligen in der Stadt stationierten Regimenter angelegt, als er zwei Kriegerdenkmale aus der Stadt entfernen ließ und auf Druck der ehemaligen Militärs eines außerhalb der Altstadt wieder aufstellen musste. Im Kern ging es um die Frage, welches Gedenken an Krieg und nationalsozialistischen Terror angemessen ist. Mittendrin stand der junge Künstler.
Fotos aus dieser Zeit zeigen Rikus mit Hut und Arbeitskittel bei der Arbeit an der hohen Engelsfigur des Denkmals, die er aus hartem Muschelkalk herausschlug. Fast könnte man den Mann auf dem Foto mit Joseph Beuys verwechseln und ähnlich umstritten wie Beuys war Rikus anfänglich in seiner Heimatstadt. Im Juni 1953 meldete sich ein Leserbriefschreiber mit einer Kritik an einer „gewissen Gruppe von Künstlern, die der abstrakten Kunst verfallen sind“. Dabei bezieht er sich auf den Entwurf des Denkmals. Jeder „unbefangene Künstler, jeder Mann und jede Frau unserer Heimatstadt, jeder, der der Frontgeneration“ angehöre, lehne „diese Darstellung eines Mahnmals entschieden ab“.
Im Stadtrat wurde argumentiert, der Entwurf von Rikus sei nicht „monumental“ genug, sogar eine „Fehlgeburt.“ Was Josef Rikus darüber gedacht hat, erschließt sich zum Teil aus veröffentlichten Tagebucheinträgen. „Die Ahnungslosigkeit ist ja unberechenbar“, beschwert er sich an einer Stelle. Die Kritik der „Frontgeneration“ muss ihn getroffen haben. Schließlich hatte auch er den Krieg aus nächster Nähe erlebt, war in Russland schwer verwundet worden.
Aber er hatte offenbar aus dieser traumatischen Erfahrung eine andere Konsequenz gezogen als die Ewiggestrigen, die sich monumentale Denkmale zur Ehrung der „Krieger“ wünschten. Seine Arbeiten wirken wie Kompositionen aus geometrischen Elementen, oft schroff, auf den ersten Blick abweisend, auf jeden Fall nicht erhebend. Wer wollte, konnte darin auch ein Spiegelbild der zerstörten Städte erkennen – so wie Paderborn, dessen zerbombte Silhouette die Paderborner hinter dem Denkmal erkennen konnten.
Die Formensprache von Rikus vereinte die wichtigen Kunstströmungen seiner Zeit: Kubismus, Konstruktivismus und Anklänge an den Expressionismus. 1947 bis 1952 hatte der gebürtige Paderborner nach einer Bildhauerlehre im Sauerland bei dem Münchener Bildhauer und Kunstprofessor Karl Knappe studiert. Der experimentierfreudige Neuerer Knappe hat Rikus’ weiteres Schaffen stark geprägt. Vor allem die Idee „aus“ dem Material heraus zu arbeiten, übernahm Rikus. 1950 schreibt der noch junge Künstler in sein Tagebuch: „Mich überkommt es immer mehr, wie tief und mehr und mehr das Tun sich einschwingt in den Rhythmus der Natur.“ Er komme sich vor wie „ein Bauer, der seinen Acker gepflügt hat“.
Das Gefühl des Eingebundenseins in die göttliche Schöpfung war der große Antrieb. Um dem Gefühl Geschichten und Ausdruck zu geben, wählte er die großen Motive aus der Bibel: Kreuzigung, Schmerzensmutter, Engelsfiguren oder König David. „Viele Varianten derselben Motive“, sagt Ursula Pütz. Die Heiligen waren für Rikus keine frommen Betrachtungsgegenstände, sondern „Bezeugungen“ des göttlichen Wirkens.
Schon wenige Jahre nach der Entstehung des Mahnmals an der Busdorfmauer in Paderborn war Josef Rikus in seiner Heimatstadt anerkannt. 1959 erhielt er den Kulturpreis der Stadt. Er arbeitete für staatliche Auftraggeber – Kunst am Bau, etwa bei Errichtung neuer Schulen oder dem Bau von Verwaltungsgebäuden – und er erhielt immer mehr kirchliche Aufträge. In der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils veränderten die Pfarrgemeinden ihre Kircheninnenräume. Ab Anfang der 1960er-Jahre häufen sich in der Auftragsliste von Josef Rikus Chorraumgestaltungen für katholische Kirchen.
In dem Maße, in dem Rikus bekannter wurde, dehnte er seine Auffassung von seiner Arbeit aus – bis zum Entwurf einer kompletten Kirche als plastisches Kunstwerk. Die von Rikus entworfene und 1967 bis 1969 erbaute Kirche Hl. Johannes XXIII. in Köln-Sülz wirkt auch ein halbes Jahrhundert später wie ein großes Abenteuer. Eine reich gegliederte Konstruktion in Beton, tief verschachtelt in sich selbst – eine begehbare Plastik, zu Kunst gewordene Architektur, die in Köln immer noch als Ereignis gilt.
In Paderborn sind die Nachfahren nicht immer so freundlich mit den Werken von Josef Rikus umgegangen. So wurde beim Neubau der Volksbank die großflächige Fassadengestaltung von Rikus vor den Westfälischen Kammerspielen abgehängt und auf einem Bauhof gelagert.
Die Ausstellung in der Herz-Jesu-Kirche erinnert auch an die Geschichte der Kunstwerke, die Rikus für dieses Kirchenschiff am Paderborner Westerntor schuf. In den 1970er-Jahren entwarf er für die 1896 entstandene neogotische und im Zweiten Weltkrieg komplett zerstörte Kirche eine neue Chorraumgestaltung mit Tabernakel, Altar und Ambo. Altar und Ambo stehen dort noch, doch der Tabernakel, der sich wie ein Baum aus Bronze hinter dem Altar emporreckte, wurde in den 1980er-Jahren zuerst aus dem Chor an die nördliche Kirchenschiffswand versetzt, später ganz aus der Kirche entfernt. Heute stehen da, wo die Rikus-Kunst die Wahrnehmung reizte, angekaufte neogotische Altäre.
Für Ursula Pütz ist es interessant, solche Entwicklungen zu verfolgen und sich immer wieder überraschen zu lassen. Sie erlebte bei den Vorarbeiten für die aktuelle Ausstellung einen weiteren Aha-Moment, als in den Dokumenten Rikus’ Pläne für eine Gestaltung des Turmes von Herz Jesu auftauchten.
Nach den Kriegsschäden war das Bauwerk nur behelfsmäßig wieder aufgebaut worden. Als Rikus am Chorraum der Kirche arbeitete, hatte er sich auch Gedanken über den Turm gemacht. Seine Zeichnungen zeigen das hoch aufragende Bauwerk, das er mit typischen, in sich verschachtelten Rikus-Elementen versehen hatte: eine riesige Plastik am Eingang zur Innenstadt und vom Gesamteindruck her eher eine Rakete als das liebliche neogotische Bauwerk mit den vier Seitentürmen, das dann tatsächlich entstand. Diese architektonische Großplastik hätte man nicht einfach so entfernen können wie einen Altar oder eine Fassade – auch wenn sie gestört hätte, wovon auszugehen ist.
Fast 30 Jahre nach seinem Tod hat das Werk von Josef Rikus nicht viel von einem herausfordernden Charakter erhalten: ein Werk, in dem sich nichts angepasst und leicht zu sein scheint, das unbequem und schwierig zu entschlüsseln ist.
Genauso anstrengend, aber auch inspirierend wird sich der strenge Mönch der modernen Kunst die Wirkung seiner Werke gewünscht haben. Die Kunst von Josef Rikus lebt, trotz allem oder gerade deshalb, weil sie weiter stört.
Stichwort
Vergessene Rikus-Werke gesucht
Erzbistum Paderborn. Das Diözesanmuseum Paderborn sucht im Rahmen seiner Aufarbeitung des Rikus-Gesamtwerkes nach vergessenen Rikus-Werken. Private Besitzer von Plastiken des Künstlers können sich im Diözesanmuseum melden, um ihre Rikus-Arbeit in das Inventar aufnehmen zu lassen. Tel.: 0 52 51/1 25 14 00