Diaspora-Aktion – Hilfe für ukrainische Kinder
Jede Menge Spielzeug: Das Jugend- und Bildungshaus ist gut für die jungen Bewohner eingerichtet.Fotos: (Markus Nowak)
Seit dem Frühjahr leben geflüchtete ukrainische Kinder in einem Heim bei Berlin. Das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken unterstützt das Hilfsprojekt im Christian-Schreiber-Haus mit seiner diesjährigen Diaspora-Aktion, die unter dem Leitwort „Mit DIR zum WIR.“ steht.
Berlin. „Hallo“, ruft Schwester Raphaela den Kindern zu, denen sie vor der Tür zum Christian-Schreiber-Haus in Alt-Buchhorst begegnet. „Privet“ oder „Pryvit“ grüßen die Mädchen und Jungen auf Russisch oder Ukrainisch zurück. Manche antworten mit einem schüchternen „Hallo“. Die Ordensfrau umarmt einige Kinder, streicht ihnen mit der Hand übers Haar, grüßt lässig mit dem „Faustgruß“. „Na, wie geht’s euch heute?“, fragt sie. Um sie herum fragende Gesichter, die Kinder verstehen noch kein Deutsch. Die Schwester zieht ihr Smartphone aus der Jackentasche. „Die Übersetzer-App wird schon helfen!“ Wenig später ist sie mit den Kids auf dem Sportplatz und spielt Fußball mit ihnen.
Dreimal pro Woche fährt Schwester Raphaela aus Berlin-Marzahn zum Christian-Schreiber-Haus in Alt-Buchhorst, einem Ort in der Gemeinde Grünheide, die durch die Fabrik des Elektroauto-Herstellers Tesla bekannt geworden ist. In dem Kinder- und Jugendbildungshaus verbringen gewöhnlich Firm- oder Erstkommuniongruppen Einkehrtage, Ministranten und andere Jugendgruppen aus dem Erzbistum Berlin nutzen das Heim am Peetzsee für Freizeiten. Zurzeit ist das Christian-Schreiber-Haus jedoch geschlossen. Seit dem Frühjahr befindet sich hier eine Notunterkunft für ukrainische Waisenkinder.
„Da spürten wir, dass der Krieg auch bei uns angekommen war“
Dass es so gekommen ist, ist einer gemeinschaftlichen Hilfsaktion katholischer Einrichtungen sowie Helferinnen und Helfern zu verdanken. Anfang März erhielt Schwester Margareta Kühn, Geschäftsführerin der Manege im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf, den Anruf einer befreundeten Lokalpolitikerin. Es werde Unterstützung bei der Evakuierung von Waisenhäusern aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine gebraucht. „Da spürten wir, dass der Krieg auch bei uns angekommen war“, erinnert sich Schwester Margareta.
Aber sie ist an Herausforderungen gewöhnt. „Wir brauchen keine Notlagen, um fitter zu werden, aber sie machen uns fitter“, sagt Schwester Margareta. Die Manege unterstützt im Plattenbauviertel Berlin-Marzahn benachteiligte junge Menschen aus schwierigen sozialen Familienverhältnissen beim Start ins Leben. Die Einrichtung wird gemeinsam von den Salesianern Don Boscos und den Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel betrieben.
Schwester Margareta kam das Christian-Schreiber-Haus als Unterkunft für die Kinder aus der Ukraine in den Sinn. Sie rief Monsignore Georg Austen an, den Generalsekretär des Bonifatiuswerkes – und das Hilfswerk konnte helfen. Das Bonifatiuswerk holte das Berliner Erzbistum und die Caritas ins Boot. Damit war der Weg frei für die Evakuierung aus der Ukraine.
Erste Evakuierungsfahrt gescheitert
In den zwei Bussen, die Ende März in Berlin losfuhren, saßen Mitarbeitende der Manege und Schwester Raphaela, die als Hauswirtschaftsmeisterin jahrelang junge Menschen ausgebildet hat, zuletzt in der Manege. Das Ziel der Reise war ein Waisenheim in der Nähe von Kiew. Es gab Komplikationen. „An der Grenze fehlte eine Unterschrift und man ließ uns nicht passieren“, erzählt Schwester Raphaela. Mehrere Tage wartete der Hilfstransport vergeblich. Erst eine zweite Evakuierungsfahrt am Wochenende vor Ostern war erfolgreich.
Zwei Reisebusse mit 43 ukrainischen Passagieren kamen im Christian-Schreiber-Haus an – darunter 25 Waisenkinder, viele mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen, ihre Erzieherinnen und deren Kinder. „Glückliche Gesichter haben wir bei der Ankunft nicht gesehen“, erinnert sich Schwester Raphaela. „Das waren Menschen voller Angst, Not und Unsicherheit, Kinder wie Erwachsene.“ Die Kinder waren mit ihren Betreuerinnen bereits wochenlang auf der Suche nach einem sicheren Ort durch die Ukraine geirrt.
Maryna Ramanina und ihr Mann Dennys gehören zu der Gruppe, die im Christian-Schreiber-Haus untergekommen ist. Sie haben zwei leibliche Kinder und mehrere Pflegekinder. In Mykolajiw, einer Stadt im Süden des Landes, saßen sie aus Angst vor russischen Raketen wochenlang im Keller, berichtet die 38-jährige Maryna. Nur Dennys sei für Besorgungen hinausgegangen. Als russische Bomben auf ihre Stadt fielen, packten sie ihre Sachen und fuhren los. Die Großmutter wollte nicht mit, der 18-jährige Sohn darf das Land nicht verlassen. „Hier ist es ruhig, hier sind alle so freundlich“, sagt Maryna erleichtert. Wäre da nicht der nahe Flughafen BER: In den ersten Tagen riefen die startenden und landenden Flugzeuge bei den Kindern schlimme Erinnerungen an die russischen Kampfflugzeuge wach, die Mykolajiw angegriffen hatten. Doch daran haben sie sich mittlerweile gewöhnt.
Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse
Zur Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse hat auch Sr. Raphaela beigetragen. Die 74-Jährige ist eine Vertrauensperson für die Kinder. Sie kommen auf sie zugerannt, schnell schließt sie die Mädchen und Jungen in ihre Arme. Dass sie kein Ukrainisch oder Russisch versteht, ist für die Ordensfrau kein Problem. „Zum Rutschen oder Schaukeln braucht man die Sprache nicht.“
Möglich wurde das gelungene Hilfsprojekt auch, weil sich Besucherinnen und Besucher sowie Mitarbeitende der Manege ehrenamtlich einbrachten. „Die Manege wird zu einer humanitären Hilfsaktion“, sagt Schwester Margareta stolz. „Und zwar ganz spontan.“ Manege-Jugendliche halfen beim Beladen der Busse oder reparieren die Rollstühle der Waisenkinder.
Gebraucht wird die Zusammenarbeit aller Helferinnen und Helfer auch in Zukunft. Von den 110 Plätzen in dem katholischen Heim sind bisher 43 mit ukrainischen Waisen- und Pflegekindern belegt, es können weitere Familien und Kinder aufgenommen werden. Neue Evakuierungsfahrten sind geplant. Schwester Raphaela, das ist sicher, wird wieder dabei sein. „Ich habe beim ersten Mal nicht lange überlegt und bin sofort mitgefahren. So wird es auch dieses Mal sein!“
Markus Nowak
Info zur Diaspora-Aktion 2022
Im November macht das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken mit der Diaspora-Aktion auf die Herausforderungen katholischer Christen aufmerksam, die als Minderheit in der Gesellschaft ihren Glauben leben – in Deutschland, aber auch in Nordeuropa und im Baltikum. Alle sind dazu eingeladen, sich für die Anliegen der Katholiken in der Diaspora einzusetzen. Höhepunkt der deutschlandweiten Diaspora-Aktion ist der sogenannte Diaspora-Sonntag am 20. November. Dieser Tag der Solidarität wird traditionell am dritten Wochenende im November begangen. Dann sammeln katholische Christen in den Gottesdiensten für die Belange ihrer Glaubensgeschwister in der Diaspora. Das Leitwort der Diaspora-Aktion 2022 „Mit DIR zum WIR.“ soll an die Bedeutung christlicher Gemeinschaft erinnern und dazu ermutigen, sie neu schätzen zu lernen. „Mit DIR zum WIR.“ heißt auch, solidarisch zu sein.