Die anderen Geschichten
Da sind noch mehr. Einige Figuren aus der „Krippe der Nebenrollen“: Jesaja, Elisabeth, Zacharias und Augustus. Foto: Flüter
Bad Driburg. Die Heilige Familie, Hirten, Engel, die drei Könige: Sie gehören zur Krippe. Das weiß jedes Kind. Neben diesen klassischen Darstellern des Geschehens in Bethlehem gibt es andere Persönlichkeiten aus der Bibel, die für die Geburt des Gottessohnes bedeutsam sind. Eine „Krippe der Nebenrollen“ rückt Figuren wie Rut, König David, den Propheten Jesaja, Herodes und Kaiser Augustus, Elisabeth und Zacharias mit ihrem Sohn in den Blick und lenkt so die Aufmerksamkeit auf ungewohnte, aber wichtige Aspekte der Weihnachtsgeschichte – ein Perspektivwechsel, der sich lohnt.
von Karl-Martin Flüter
Festlich aufpoliert und glänzend sind sie nicht, die Figuren, die Sr. Marie Benedicte Schildkamp in ihrer kleinen Werkstatt im Missionshaus in Neuenbeken hergestellt hat. Die 60 Zentimeter hohen Gestalten sind von aufgerauter Struktur. Ihr Material ist aus grob schamottiertem Ton, bei 1 200 Grad gebrannt. Erdgebunden, schlicht stehen sie um die Heilige Familie. „Ich wollte nichts Schönes machen“, sagt Sr. Marie Benedicte Schildkamp, „sondern die Not zeigen. Gott ist in das Elend gekommen.“
Als die Missionsschwester 2015 Besuch von Pastor Edgar Zoor aus Bad Driburg erhielt, wussten beide, dass sie gleicher Meinung sind. Zoor, Krankenhausseelsorger in Bad Driburg und Steinheim, erläuterte Sr. Marie Benedicte die Idee zu einer „Krippe der Nebenrollen“. Nicht die Hirten, Engel und die drei Könige, auch nicht Ochs und Esel sollten um die Heilige Familie stehen. Eine ganz neue Besetzung der Krippe hatte sich Zoor ausgedacht.
Edgar Zoor hat ein Buch über seine „Krippe der Nebenrollen“ geschrieben. Im Titel heißt das Buch: „Da sind noch mehr!“ Er meint: mehr Persönlichkeiten, die mit dem weihnachtlichen Geschehen in Verbindung gebracht werden können. Jesaja, Rut oder David wie auch andere werden „in der Bibel direkt oder indirekt in Zusammenhang mit der Menschwerdung Gottes genannt“. Sie in die Weihnachtsgeschichte aufzuwerten, bedeutet neue Bedeutung und Erzählstränge aufzunehmen.
Rut, die Urahnin von Jesus, kann dafür als Beispiel dienen. Sie kam als Fremde nach Bethlehem. Sr. Marie Benedictes Gestaltung zeigt sie beim Ährenlesen auf dem Feld. Ohne die übrig gebliebenen Körner wäre Rut verhungert. Doch die Immigrantin wurde die Urgroßmutter von David, dem jüdischen König. Ohne sie wäre Jesus nicht geboren worden, gäbe es keine Weihnachtsgeschichte. Auch das ist eine wichtige christliche Lehre in Zeiten, in denen geflüchtete Menschen von vielen Menschen ausgegrenzt und für alle Missstände verantwortlich gemacht werden.
Anders als die arme Rut haben die drei Herrscherfiguren dieser Krippe Macht und Reichtum um sich versammelt. Doch sie sind im Entwurf von Sr. Marie Benedicte und in der Interpretation von Edgar Zoor gebrochene Gestalten. David, der König, spielt eine Harfe: eher ein Künstler denn ein Potentat. Auch er hat gemordet. Herodes, machthungriger Tyrann, ist abhängig von Roms Gnaden. Die Selbstzweifel trägt er in seinem Gesicht. Kaiser Augustus, der mächtigste Mensch seiner Zeit, ist ganz und gar effizient und verstandesgeprägt. Das Schicksal der Menschen ist ihm egal, er bleibt abstrakt – und das kann schnell unmenschlich werden.
Die tyrannische Macht, die Kunst um ihrer selbst willen, die seelenlose Abstraktion einer „vernünftigen“, digitalen Welt: Darin ist die moderne Welt wiederzuerkennen. Wie anders sind dagegen Elisabeth und Zacharias mit ihrem Sohn, dem zukünftigen Johannes dem Täufer. Sie sind voller Freude, ganz der Heiligen Familie zugewandt.
Die Frau, die den Retter der Welt geboren hat, ist in der Version von Sr. Marie Benedicte vor allem irdisch. Wie eine Erdmutter hockt sie am Boden, das Kind im Arm, den Blick auf ihren Mann Josef gerichtet – der in dieser Krippe nicht ein alter Mann ist, sondern ein starker, verständnisvoller Vater, dem das Glück und die Fürsorge für Kind und Frau anzusehen ist.
Maria selbst trägt afrikanische Züge und, wie eine Auszeichnung, eine auffällige Kette. In diese Gestaltung Marias ist die Erfahrung von 20 Jahren Kongo eingeflossen.
Im Kongo hat Marie Benedicte mit Ebola-Waisenkindern gearbeitet, nachdem sie in Köln Kunst studiert hatte. Als sie 2005 nach Deutschland zurückkam, versuchte sie sich wieder in der Kunst. Der Auftrag von Edgar Zoor habe in ihr etwas „freigesetzt“, sagt sie. „Lust und Energie“ habe sie verspürt. Für einige Figuren hat sie bis zu 100 Stunden gebraucht.
Sr. Marie Benedicte ist als Provinzoberin nach Holland gegangen. Dort bleibt keine Zeit für die Werkstatt. Doch die Krippe, die 2017 in Bad Driburg zu sehen war, erinnert an ihre Qualitäten als Künstlerin. Sie hat etwas Wesentliches getroffen. Nicht mal Kerzen habe es bei ihrer ersten Weihnacht im Kongo gegeben, erinnert sie sich: „Da war nichts.“ Nicht anders wird es auch in Bethlehem gewesen sein.
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