„Diese Art Volkskirche ist super“
Auch wenn er bei Schützenfesten unter Beobachtung steht, ist es Pastor Norbert Scheckel wichtig, dort zu sein. (Foto: pixabay)
Katholische Laien haben es derzeit nicht gerade leicht mit ihrer Kirche. Aber wie geht es eigentlich den Priestern, denen, die vor Ort sind? Schließlich sind sie noch viel mehr, viel existenzieller mit der Institution Kirche verbunden. Ein Gespräch mit Pastor Norbert Scheckel. Mit Norbert Scheckel sprachen Claudia Auffenberg und Andreas Wiedenhaus.
Herr Scheckel, wie geht es Ihnen?
Norbert Scheckel: „Ist die Frage beruflich oder privat gemeint?“
Kann man das trennen?
Norbert Scheckel: „Sicher, in meinem Leben gibt es schon Dinge, die mit meinem Beruf nichts zu tun haben. Aber beruflich kann ich sagen: Es geht mir ganz gut. Ich mache viele Dinge auch nach 23 Jahren Priester sein immer noch gern. Wir haben gerade spannende Zeiten, weil unser Pastoraler Raum Geseke-Erwitte im Werden ist und da gibt es doch mehr zu sortieren, als anfangs gedacht.“
Und die Großwetterlage?
Norbert Scheckel: „Auch die betrachte ich mit interessierter Spannung. Teils sehe ich, dass Dinge im Fluss sind, von denen es gut ist, dass sie im Fluss sind. Aber ich beobachte auch, dass da eine Art gesellschaftliches Greenwashing betrieben wird. Es werden Themen in die Kirche ausgelagert, die die ganze Gesellschaft betreffen. Etwa die Frage nach Homosexualität und der Anerkennung von Homosexuellen. Ich glaube, dass es in der Gesellschaft insgesamt damit größere Probleme gibt als in der Lebenspraxis der Kirche. Auch der Missbrauch ist ja kein rein kirchliches Thema, deswegen sollte er auch nicht so diskutiert werden. Sonst fällt die Bereitschaft, das Thema auch in anderen Bereichen anzugehen, hinten runter und die Kirche wird eine Art gesellschaftliches Zwischenlager. Das aber würde der Herausforderung nicht gerecht. Wenn es dann heißt, die Kirche solle doch mal mit der Zeit gehen, dann frage ich gern zurück: Geht denn die Gesellschaft mit der Zeit?“
Aber müsste die Kirche nicht aufgrund ihres eigenen Anspruchs da vorangehen? Das könnte doch auch eine Chance sein.
Norbert Scheckel: „Ich frage mich zunehmend, warum wir überhaupt einen solch starken Fokus auf die moralischen Fragen legen. Im vergangenen Jahr hatte ich Kontakt zu einem jungen Mann, der katholisch werden wollte. Dazu muss man ein Riesenformular ausfüllen, weil die Frage geklärt werden muss, ob die ehelichen Verhältnisse geordnet sind. Der war gerade volljährig, da gab es noch gar keine ehelichen Verhältnisse. Ich würde sagen: Der soll erstmal katholisch werden, über alles andere reden wir bei Gelegenheit.“
Diese Fokussierung ist ja genau das Problem.
Norbert Scheckel: „Das sehe ich auch so. Vielleicht sollten wir in diesen Fragen mal etwas abrüsten. Es betrifft ja nicht nur die Kirche, in allen Religionen stehen diese Fragen ziemlich im Fokus. Warum ist das so? Sicher, ethische Fragen gehören zum Menschsein dazu, aber für mich wären andere Fragen wichtiger: Wie gehe ich mit anderen Menschen um? Wie gehe ich mit benachteiligten Gruppen um? Papst Benedikt XVI. hat es zu Beginn seines Pontifikats mal sinngemäß gesagt: Über diese Dinge haben wir genug gesagt, jetzt konzentrieren wir uns auf anderes.“
Trotzdem sind diese Themen als Probleme der Kirche in der Öffentlichkeit. Wie nehmen Sie das wahr, wie reagieren Leute auf Sie als Priester?
Norbert Scheckel: „Ein Mitbruder, der in Priesterkleidung durch Paderborn ging, ist dort von einer fremden Frau beschimpft worden. So etwas ist mir hier in Geseke noch nicht passiert. Die Leute kennen mich und wissen, wie ich ticke. Ich bin auch ein Freund der flachen Hierarchie. Es liegt mir fern, unnahbar in einen Kreis reinzuschweben, ich möchte gern mit den Menschen auf Augenhöhe sein. Vielleicht hilft das, um klarzumachen: Der ist jetzt nicht anders oder komisch, weil er Priester ist, sondern er ist einfach da.“
Sind Sie immer als Priester erkennbar?
Norbert Scheckel: „Mit meinem Gesicht ja! (lacht). Bei offiziellen Anlässen natürlich auch an der Kleidung, sonst nicht unbedingt. Das hat aber vor allem den Grund, dass ich das am Hals nicht so gut haben kann.
Wir sprechen an dem Tag, an dem Vorwürfe gegen den früheren Präsidenten des Kindermissionswerks öffentlich werden, den viele in Deutschland gekannt und sehr geschätzt haben. Ist die Aussage „Die Leute kennen mich“ wirklich ein Argument? Spüren Sie nicht doch eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit Ihnen?
Im direkten Umgang spüre ich sie nicht! Bei Erstkontakten bei Kondolenzgesprächen etwa spüre ich eine normale Zurückhaltung im Sinne von: Wer kommt denn da? Hier im ländlichen, ehemals sehr katholischen Bereich gibt es immer noch Respekt vor dem Priester. Und beim Schützenfest gibt es sicher auch Leute, die genauer hingucken: Mit wem steht er da? Natürlich gibt es immer mal wieder Diskussionen zu diesen Themen, da wird auch gern verallgemeinernd über „die Leute“ gesprochen, aber eine Distanz zu mir kann ich – Gott sei Dank – nicht feststellen. Vielleicht ist es wie beim Scheinriesen, dieser genialen Figur aus „Jim Knopf und der Lokomotivführer“, der immer kleiner wird, je näher man ihm kommt. Je persönlicher der Kontakt wird, desto mehr wird klar: Das ist nicht der unnahbare Priester, sondern das ist Norbert Scheckel.“
Und umgekehrt: Ist Ihnen Unbefangenheit abhandengekommen?
Norbert Scheckel: „Schon als Diakon habe ich darauf geachtet und bestimmte Situation gemieden. Jetzt bin ich hier aufgrund meiner Rolle eine Art Person des öffentlichen Interesses und werde bei Schützenfesten und solchen Gelegenheiten etwas mehr wahrgenommen als andere: „Aha, da steht der Pastor“. Von daher habe ich sowieso eine Art „Mad-Eye-Moody“-Auge wie die Figur aus Harry Potter entwickelt. Ich sehe durchaus, wer mich beobachtet, und habe bei Gesprächen den Platz im Blick.“
Sie haben von „ehemals katholischen Gebieten“ gesprochen. Vor ein paar Tagen hat die Bischofskonferenz die aktuelle Statistik veröffentlicht, Kirchenaustritte auf Rekordhöhe, Gottesdienstbesuche gehen dramatisch zurück. Wie geht es Ihnen damit?
Norbert Scheckel: „Ich bin seit 23 Jahren Priester und seit 23 Jahren der Jüngste im Gottesdienst. Aber im Ernst: Ich finde das sehr schade. Viele Menschen, die mir im Gottesdienst begegnen, kommen in meiner privaten Lebenswelt gar nicht vor. Das nehme ich schon wahr. Aber ich nehme auch wahr, was die Zahlen für das Erzbistum Paderborn sagen: Es gibt mehr Taufen und mehr Trauungen, wobei nach Corona jetzt vielleicht manches nachgeholt wird. Ich denke im Moment oft an Adolph Kolping. Warum hat er damals die jungen Männer gesammelt? Weil ihnen, wenn sie ihr elterliches Milieu verließen und nach Köln gingen, alles wegbrach. So ähnlich ist es heute auch. Heute verlassen die Menschen das Milieu nicht, sondern es bricht ihnen zu Hause weg und es gibt gar keine innere Widerstandskraft.
Allerdings glaube ich nicht, dass es heute weniger gläubige Menschen gibt als früher. Der Glaube war eine selbstverständlichere Praxis, es wurde nicht gefragt und man musste nicht antworten. Trotzdem war und ist diese Art Volkskirche super, weil sie für jeden Platz hat, auch für Menschen, die nicht jeden Tag das Tagesevangelium lesen, sondern denen ein bisschen Glaube reicht. Das bricht weg und es macht mir Sorge, dass irgendwann nichts mehr da ist, dass man später kein Vademecum mehr hat. Mir ist es in der Kommunionvorbereitung wichtig, dass die Kinder am Ende wenigstens das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis und das „Gegrüßet seist du, Maria“ auswendig kennen, dass sie einfach etwas zur Hand haben. Was mir auch Sorgen macht, ist, dass ein kulturelles Wissen verloren geht: Musik oder Kunst ist doch häufig nur zu verstehen, wenn man ein christliches Grundwissen hat.“
Trotzdem wirken Sie insgesamt noch einigermaßen optimistisch …
Norbert Scheckel: „Na ja, es macht mich nicht optimistisch, dass die Menschen irgendwann nichts mehr wissen und dass wir gegen den Glaubenswissensverfall anarbeiten. Dass das Milieu, das unsere Gemeinden noch trägt, wegbricht, macht mich schon traurig. Corona hat das noch verstärkt. Aber ich frage mich, ob das wirklich ein Glaubensverlust ist oder eher ein Offenbarwerden der Realität.“
Nach unserem Interview werden Sie ein Traugespräch führen. Was erwarten Brautleute von der Kirche, von Ihnen?
Norbert Scheckel: „Die meisten kommen wohl mit so einer etwas diffusen Erwartung nach dem Segen. Es gibt auch manche, denen die kirchliche Trauung wirklich etwas bedeutet. In den Traugesprächen bette ich die Ehe ein in das Wesen des Christentums und der Kirche: Ursakrament, Grundsakrament und dann die sieben Sakramente, es gibt also eine Art Blitzkurs Christentum. Manche haben dabei wirklich ein Aha-Erlebnis und sagen, das hätten sie so noch nie gesehen. Dann denke ich: Es ist eigentlich ganz einfach, die große Linie zu ziehen von der Inkarnation bis zum Glauben erleben mit allen Sinnen. Also: Sie erwarten den Segen und gehen hoffentlich mit der Erkenntnis, dass die Feier des Sakraments doch mehr ist als sich den Segen abzuholen …“
Oder den Rahmen für eine schöne Feier zu bekommen.
Norbert Scheckel: „Der wird ja heutzutage Gott sei Dank auch von anderen angeboten, so dass die Menschen, denen es darauf ankommt, andere Möglichkeiten haben.“
Was möchten Sie als Priester den Menschen geben, die zu Ihnen kommen?
Norbert Scheckel: „Ich bin fest davon überzeugt, dass alle Menschen ein Gottes-Gen haben, dass in allen Menschen eine diffuse Sehnsucht nach Gott existiert, die sich auf ganz vielfältige Weise äußern kann. Eine davon ist der Wunsch nach Ehe, nach Treue und Verlässlichkeit in guten und in bösen Tagen, was eigentlich für den Menschen unmöglich ist, wie es schon in der Bibel heißt. Ich versuche, ihnen zu vermitteln, dass sie mit ihrer Ehe für sich und für andere ein bisschen auf diese Sehnsucht nach Gott antworten. Wer liebt, hat Gott erkannt. Manche sagen mir, bei einer Eheschließung werde ihnen klar, dass die Welt aus mehr besteht als nur aus Zahlen und Fakten und Wirtschaftsdaten, sondern, dass das Wichtigste diese Sehnsucht nach Liebe, nach Beständigkeit ist.“
Und was bedeutet Ihnen persönlich Ihr Priestersein?
Norbert Scheckel: „Dass ich eine Position einnehmen kann, die den Menschen ermöglicht, ihre Sehnsucht nach Gott zu artikulieren. Untereinander trauen sie sich das vielleicht nicht. Bei allen Pastoralkonzepten, mit denen man so zugeworfen wird: Das Hauptpastoralkonzept ist, da zu sein, wo Leute sind und das sind zum Beispiel Schützen- oder Dorffeste. Es gibt kein Fest, bei dem es nicht mindestens einmal zu einem Gespräch über den Glauben im weitesten Sinne kommt – und solche Gespräche beginne nie ich! In manchen Menschen rumort es diffus und da möchte ich ein Gegenüber sein, also den Menschen ermöglichen, dieses Rumoren ins Wort zu bringen.“
Das hat ja noch gar nichts mit Sakramentenspendung oder Eucharistie zu tun.
Norbert Scheckel: „Das ist mir natürlich wichtig und das tue ich gern, aber ich möchte auch außerkirchlich oder randkirchlich durch mein Dasein und durch meine Ansprechbarkeit Gott präsent halten.“
Innerkirchlich wird mittlerweile vieles von Laien übernommen. Haben Sie Sorge, dass Sie irgendwann überflüssig werden könnten?
Norbert Scheckel: „Nein, aber die Lage bringt natürlich Anfragen. Wir müssen das sakramentale Amt neu buchstabieren. Zur Zeit meiner Eltern und Großeltern war mit dem Amt auch ein Bildungsvorsprung verbunden und schon allein dadurch hatte ein Priester Autorität. Das ist heute anders. Und wenn gut gebildete Laientheologinnen und -theologen Dienste übernehmen, ist das natürlich auch eine Herausforderung für das Amt.“
Jetzt sind wir thematisch beim Synodalen Weg. Macht der Ihnen Hoffnung?
Norbert Scheckel: „Für das Fortbestehen des Christentums in Europa halte ich die katholische Kirche für unverzichtbar, daher macht mir Hoffnung, dass sich Menschen für unsere Kirche verantwortlich fühlen und mit viel Engagement diskutieren. Ich halte den Synodalen Weg schon für einen geistlichen Prozess, der viel Dynamik reingebracht hat. Es darf aber nicht nur oberflächlich diskutiert werden. Wichtig finde ich, über die veränderte Glaubenssituation der Menschen zu sprechen, darüber, wie man Christus ins Gespräch bringen kann. Über den Zölibat etwa kann man gern reden, ich kann mir das priesterliche Leben auch anders vorstellen, aber er betrifft ja die wenigsten. Man sollte jetzt nicht Forderungen erheben, die von einem selbst keine Änderungen erwarten. Wenn ich das Priesteramt für Frauen fordere, kann ich mit der Forderung auch gleich den Schwarzen Peter nach Rom weitergeben. Ich muss da immer an Mutter Teresa denken. Auf die Frage, was sich in der Kirche ändern müsse, sagte sie: „Sie und ich.“ Für mich muss die erste Frage an jeden von uns sein: Wo bin ich ein glaubwürdiger Zeuge, eine glaubwürdige Zeugin für Christus?“
Zur Person
Norbert Scheckel (51) wurde 1999 zum Priester geweiht. Bis 2019 war er u. a. Diözesanjugendseelsorger der Malteser Jugend, dieses Amt hatte 14 Jahre inne. Heute ist er Pastor im Pastoralverbund Geseke und Stadtseelsorger der dortigen Malteser. Als Vertreter des Dekanates Lippstadt-Rüthen ist er im Priesterrat.