„Einheit braucht langen Atem“ – Dr. Christian Stoll im Interview

Ökumenischer Kirchentag / ÖKT vom 28. Mai bis 1. Juni 2003 in Berlin. Motto des Kirchentages ist: „Ihr sollt ein Segen sein“.
Bild: Fahnen / Flaggen des Katholikentages und Kirchentages.

Pfingsten ist traditionell das Fest, an dem vielerorts ökumenische Gottesdienste gefeiert werden. Dennoch ist festzustellen: Früher war mehr Ökumene. Ein Gespräch mit Dr. Christian Stoll, dem kommissarischen Leitenden Direktor des Johann-Adam-Moehler-Instituts für Ökumenik in Paderborn. 

Herr Dr. Stoll, gibt es sie noch: die Ökumene?

Dr. Christian Stoll: „Ich denke schon! Es gibt sie auf verschiedenen Ebenen. Auf Ebene der Kirchenleitungen sind wir es selbstverständlich gewohnt, dass dort ökumenische Beziehungen unterhalten und Kontakte offizieller Art gepflegt werden. Auch in der theologischen Wissenschaft gibt es die Ökumene noch, aber da muss ich dem leicht kritischen Unterton Ihrer Frage durchaus Recht geben: das Bemühen um die Bearbeitung ökumenischer Fragestellungen ist zurückgegangen. Auch auf Ebene der Gemeinde, des gelebten Christentums, hat der Elan etwas nachgelassen. Aber man sollte nicht schlechtreden, was heute ganz selbstverständlich ökumenisch gemacht wird. Von daher würde ich sagen: Die Ökumene lebt, sie hat aber nicht mehr diesen Drive der Anfänge.“

Wie erklären Sie sich das? Wir leben doch in Zeiten, in denen die Christen der Welt etwas zu sagen hätten. 

Dr. Christian Stoll: „Die ökumenische Bewegung ist Teil der Kirche. Daher betreffen die verschiedenen Krisen der Kirchen auch die Ökumene. Wenn es für Menschen – aus welchen Gründen auch immer – fragwürdig wird, ob sie sich noch für die Kirche engagieren wollen, hat das natürlich Rückwirkungen auf die ökumenische Arbeit. Vergessen darf man aber auch nicht, dass die ökumenische Bewegung in gewisser Hinsicht Opfer ihres eigenen Erfolges ist. Es ist so vieles erreicht worden, dass manche sich fragen: Warum lohnt es sich, sich weiter um die Ökumene zu bemühen?“

Ökumene

Und was ist Ihre Antwort? Die Gläubigen dürften manches wohl relativ pragmatisch gelöst haben und gehen sonntags dann eben zum evangelischen Gottesdienst.

Dr. Christian Stoll: „Man sollte sich zum einen nicht darauf verlassen, dass das gute Verhältnis für alle Zeiten gut bleibt. Die Kommunikation mit den anderen Konfessionen muss fortlaufend gepflegt werden. Manche Kontakte müssen neu angebahnt werden, weil es einen Generationswechsel gibt. Man kann sich auf dem Status Quo also nicht einfach ausruhen. Was die Ergebnisse offizieller Dialoge und Einigungsbemühungen betrifft, kann ich die Ungeduld nachvollziehen. Andererseits darf man nicht übersehen, dass Fragen des Sakramentenempfangs Kernbereiche des Glaubens betreffen und es sich lohnt, über das nachzudenken, was wir da tun und wie sehr wir uns einig seien müssen, um es gemeinsam tun zu können. Da würde mich mir an der Basis manchmal mehr theologisches Bewusstsein wünschen. Man sollte auch die Erwartungen der Kirchenleitungen nicht einfach übergehen. In der ökumenischen Bewegung kommt es immer auf das gemeinsame Glauben und Handeln an. Und wenn man das erreichen will, braucht man den langen Atem, alle Akteure zusammenzubringen. Sonst erreicht man keine Einheit.“

Welche Art von Einheit wird denn überhaupt angestrebt? 

Dr. Christian Stoll: „Das ist eine entscheidende Frage der ökumenischen Bewegung, über die es aber keine Einigkeit gibt. Die sichtbare Einheit, mit voller Sakramentengemeinschaft und gemeinsamer kirchlicher Leitung, wird von der römisch-katholischen Kirche hochgehalten, in anderer Weise auch von den orthodoxen Kirchen. Hier gibt es auch Erfolge im Ringen darum, was genau sichtbare Einheit bedeuten kann. Mit den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die aus der Reformation hervorgegangen sind, ist Einheit kaum in derselben Weise erreichbar, wobei es auch hier im Einzelnen viele unterschiedliche Vorstellungen gibt. Wie genau die Einheit aussehen soll, wird unterschiedlich gesehen. Dass sie sein soll, bleibt jedoch eine Grundüberzeugung ökumenischer Bemühungen.“

Wer soll in den Gemeinden die Ökumene betreiben?

Dr. Christian Stoll: „Das kann ganz unterschiedlich sein, je nach dem, was man darunter versteht. Man kann theologisch miteinander diskutieren, man kann aber auch als Gemeinden in einem caritativen Projekt kooperieren. In Wien, wo ich derzeit noch lebe, haben die Gemeinden im Winter eine Wärmestube eingerichtet – und alle machen mit: Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, Methodisten. Das setzt voraus, dem anderen zu unterstellen, dass auch er christliche Nächstenliebe lebt. Man erkennt an, dass er es tut und deswegen kann man es gemeinsam tun. Solche Dinge übernehmen dann vielleicht andere Leute als die, die lieber über Sakramententheologie diskutieren. Jedenfalls muss es nicht immer der Pfarrer sein oder ein offiziell Beauftragter, das können engagierte Christen auf vielen Ebenen tun.“

Sie haben eingangs von den Krisen der Kirchen gesprochen. Könnten diese Krisen vielleicht eine Chance für die Ökumene sein, weil man zusammenrückt und etwa Gebäude gemeinsam nutzt?

Dr. Christian Stoll: „Vor Ort kann aus einer gemeinsamen Kirchennutzung sicher etwas Neues entstehen, aber ich sehe solche Pläne bislang eher als pragmatische Lösungen. Eine zentrale Zukunftsfrage wird sein, was die Schrumpfung, vielleicht sogar das Ende der Volkskirche für die ökumenische Arbeit genau bedeutet: Welche Gestalt diese haben kann, hängt davon ab, welche Gestalt Kirche insgesamt haben wird, welche Stellung sie in der Gesellschaft haben wird, welche sozialen Milieus sie bindet und welche nicht. Darüber werden wir in den nächsten Jahren nachdenken müssen.“

Ist das eine Aufgabe für das Möhler-Institut?

Dr. Christian Stoll: „Dieser Aufgabe wollen wir uns verstärkt stellen. Wir haben Kompetenzen, die weiterhin gefragt sind. Dazu gehört das Führen der offiziellen ökumenischen Dialoge auf den unterschiedlichen Ebenen. Dazu gehört auch konfessionskundliche Bildung, die nicht überflüssig werden wird, weil immer wieder neue Generationen heranwachsen. Aber in den nächsten Jahren muss die Frage, auf welche Gestalt von Kirche wir zugehen, verstärkt in die ökumenische Arbeit einbezogen werden. Welchen Ort hat darin der ökumenische Gedanke, welche Erwartungen an ökumenische Bemühungen können wir zukünftig haben?“

Kommt angesichts der Krise der katholischen und evangelischen Kirchen den orthodoxen Kirchen in der Ökumene eine größere Bedeutung zu?

Dr. Christian Stoll: „Was ich bislang gesagt habe, bezog sich vor allem auf die deutsche Situation, in der Weltökumene stehen wir vor ganz anderen Herausforderungen. In der Orthodoxie ist derzeit alles auf die Frage fokussiert: Was bedeutet der Ukrainekrieg für die innerorthodoxen Verhältnisse und für das Verhältnis der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zur Orthodoxie?“

Vor allem die Orthodoxie ist ja für das Möhler-Institut ein bedeutendes Thema.

Dr. Christian Stoll: „Ja, wir führen den Dialog mit den orthodoxen Kirchen, der im Augenblick unter dem Eindruck des Kriegs steht. Und auch wir fragen uns: Muss man den Dialog ganz neu aufstellen? Hat man sich in der russisch-orthodoxen Kirche getäuscht? Das wird derzeit und wohl auch in Zukunft kontrovers diskutiert.“

Können Sie zumindest auf wissenschaftlicher Basis eine Vermittlerrolle einnehmen?

Dr. Christian Stoll: „Das Institut hat lang zurückreichende Kontakte und ein großes Netz an Gesprächspartnern. Das ist sehr wertvoll, denn viele Kontakte sind durch den Krieg abgerissen. Neue Verbindungen aufzunehmen ist schwer, weil das Misstrauen innerhalb der Orthodoxie groß ist und manche nicht mehr frei sprechen. Die lange Erfahrung, die das Institut hat, ist daher jetzt gerade wichtig.“

Das heißt, den Orthodoxen könnte gewissermaßen von außen, von katholischer Seite, geholfen werden?

Dr. Christian Stoll: „Was wir im Institut zunächst tun können, ist einmal die kirchliche Dimension des Konfliktes zu erklären. Viele Menschen kennen die orthodoxe Situation in der Ukraine gar nicht und wissen nicht, welche kirchlichen Akteure es dort gibt und wie diese zum Krieg stehen. Da leistet das Institut derzeit viel Aufklärungsarbeit. Und über unsere Kontakte ist es sehr wohl noch möglich, Gesprächsforen zu initiieren, Austausch zu ermöglichen, wobei das in der Situation des Krieges alles seine Grenzen hat.“

Sie haben eben gesagt, ökumenische Zusammenarbeit werde möglich, wenn man dem anderen unterstellt, dass er christliche Nächstenliebe lebt. So gesehen ist eine ökumenische Zusammenarbeit mit dem Patriarchen von Moskau derzeit kaum möglich, oder?

Dr. Christian Stoll: „Die Äußerungen des Moskauer Patriarchen zum Krieg sind zweifellos irritierend. Man möchte ihn fragen, wie er seine Haltung vor seinem Gewissen verantworten kann, wie er sie argumentativ mit seinem Christentum vereinbart. Zugleich stellt sich die Frage: Identifizieren wir die russisch-orthodoxe Kirche mit ihrer Kirchenleitung? Was ist mit den Gläubigen, wie stehen die dazu? Wir hören, dass sich längst nicht alle orthodoxen Priester – wenn sie frei sprechen können – damit identifizieren. Es ist wichtig, nicht alle Brücken abzubrechen. Es soll aber auch nichts kaschiert werden.“

Könnte das eine Aufgabe für die Gemeinden sein, die ja manchmal Nachbarn sind?

Dr. Christian Stoll: „Nach meiner Erfahrung ist es nur begrenzt möglich, politische Fragen auf Gemeindeebene zu diskutieren. Schön wäre es natürlich, wenn sich Gelegenheiten zu Verständigung ergäben, aber man darf die Menschen auch nicht überfordern. Offizielle Gesprächskanäle sind hier erst einmal unverfänglicher, da nicht gleich persönliche Schicksale mitspielen.“

Das Thema zeigt, dass die Ökumene nicht nur eine innerkirchliche Angelegenheit ist, sondern auch eine gesellschaftliche Relevanz hat. Gibt es Themen, bei denen es für die Gesellschaft in Deutschland wichtig ist, dass Katholiken und Protestanten beieinanderbleiben?

Dr. Christian Stoll: „Man hat oft betont, dass das gemeinsame Voranschreiten der großen christlichen Kirchen in ethischen und politischen Fragen für das Land wichtig ist und lange war das auch so. Mit der Schrumpfung der Kirchen wird ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutung aber deutlich geringer werden. Dennoch ist es sinnvoll, sich in ethischen Fragen um Einigkeit zu bemühen, vor allem auf den Feldern, auf denen man der Kirche immer noch einen hohen Kredit einräumt: in lebensethischen Fragen, etwa dem Umgang mit Krankheit, dem Alter und dem Sterben. Aber man muss sich klar sein, dass man keine gesellschaftlich bestimmende Kraft mehr sein wird, die in solchen Fragen den Kurs vorgeben kann.“

Und mindestens beim Thema Sterben, konkret: assistierter Suizid, gab es ökumenische Irritationen.

Dr. Christian Stoll: „Bei allem ökumenischen Miteinander, das so selbstverständlich geworden ist, denkt man gerade in Fragen des Lebensanfangs und des Lebensendes unterschiedlich. Da gehen die Positionen tatsächlich auseinander. Nach meinem Eindruck nimmt das eher zu als ab und ich glaube nicht, dass man die Differenzen leicht überwinden kann. Das ist durchaus eine Herausforderung für das ökumenische Gespräch.“

Und was ist Ihre persönliche Motivation für die Ökumene?

Dr. Christian Stoll: „Zum einen hat mich mein wissenschaftlicher Weg zur Ökumene geführt. Wenn man in Deutschland Theologie studiert, stößt man früh auf eine reiche bi-konfessionelle Tradition, die weltweit einzigartig ist. Um ein Beispiel zu nennen: Karl Rahner und Karl Barth sind wohl die wirkmächtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts auf katholischer und evangelischer Seite. Es ist faszinierend, die beiden konfessionellen Wege und ihr Zueinander zu untersuchen und zu verstehen.  Zum anderen ist es für den eigenen Glauben bereichernd, andere Gestalten des Christseins kennenzulernen und sich mit ihnen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede auszutauschen. Das tut der eigenen Identität keinen Abbruch, sondern es ist gerade hilfreich, sich dieser zu vergewissern. Zugleich kann man dabei immer wieder die schöne Erfahrung machen, dass das Christentum in ganz anderen und unerwarteten Formen lebendig ist.“

Dr. Christian Stoll

Zur Person

Seit dem 1. ­April ist Dr. Christian Stoll (40) neuer kommissarischer Leitender Direktor des Johann-Adam-Möhler-­Instituts. Kommissarisch, weil die Bestätigung durch den neuen Erzbischof noch erfolgen muss. Neben der Leitung des international tätigen Ökumene-­Instituts mit Sitz in Paderborn wird er auch den Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmen­geschichte an der Theologischen Fakultät Paderborn übernehmen. Die Berufung auf den Lehrstuhl und die Ernennung zum neuen Leiter des Möhler-­Instituts stehen in Zusammenhang. Stoll stammt aus Bad Driburg, er ist verheiratet und Vater zweier Söhne.

Mit Dr. Stoll sprachen Claudia Auffenberg und Andreas Wiedenhaus

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