22.10.2015

Einübung ins richtige Sehen

Ein Fernrohr, wie sie an Aussichtspunkten stehen, scheint den Betrachter zu betrachter. Der blinde Bettler Bartimäus wird von seiner Blindheit geheilt, weil er zuvor gesehen wird. (Foto: ricok96/photocase.de)

Der Glaube will sehend machen für das Kreuz als Weg zum Leben.

Wie haben wir uns an diese Heilungsgeschichten gewöhnt? Überhört man nicht leicht ihre Botschaft? Ist sie uns nicht im Grunde unverständlich und erklären wir sie uns leichthin: Jetzt kann der Blinde wieder sehen. Seine Bitte wurde erhört.

Das ist es.

Diese Geschichte möchte uns viel mehr erzählen. In diesem Evangelium fällt gleich auf: Der blinde Bettler wird mit Namen genannt. Das ist ganz außergewöhnlich. Warum geschieht das? Warum der Name: Bartimäus, der für die Leser ins Griechische übersetzt wird: Sohn des Timäus, des Geehrten? Womöglich will uns der griechische Name sagen, dass Bartimäus nicht dem Judentum angehörte. Das Markusevangelium richtet sich an eine römische Zuhörerschaft, die die Heilsgeschichte Jesu sicher mit anderen Ohren aufnahm als eine jüdische. Möchte uns der Name sagen, dass sein Träger aus einer höhergestellten Familie stammte? Wir wissen es nicht. Dennoch zieht uns Bartimäus in seinen Bann. Mit der Namensnennung liegt der Fokus der Geschichte auf der Person des blinden Bettlers. Er ist der eigentlich Handelnde in dieser Episode. Er sitzt, er hört, er schreit – und er lässt sich bewegen!

Der Verzweifelte, aus der Bahn Geworfene, der um seinen Lebenserhalt betteln muss, gibt nicht auf und sucht verzweifelt nach der Erlösung zum Leben, kämpft darum. Nun kommt Jesus vorbei. Er kommt aus Jericho, der am tiefsten gelegenen Stadt der Welt und geht hinauf nach Jerusalem. Es ist die Zeit vor Pessach und dem Einzug Jesu in Jerusalem. Die Leidensgeschichte Jesu steht bevor.

In drei vorhergehenden Szenen dieses Evangeliums geht es im Wesentlichen darum, dass Jesus versucht, seine Jünger auf seinen Leidensweg vorzubereiten. Vergebens. Zuletzt streiten sie sogar darüber, wer dem Erhöhten am nächsten sitzen darf. Nachfolge? Sind sie dazu bereit? Wohl eher nicht.

Doch zurück zu Bartimäus. Er ruft „Sohn Davids, Jesus“. Unglaublich. Er, der Blinde, Gescheiterte, Ungläubige erkennt Jesus als Messias, ohne Erläuterung, ohne Wissen um die messianischen Verheißungen des Judentums. Er erkennt ihn mit dem Herzen, nicht mit dem Verstand. Und Jesus hört ihn, trotz allen Lärms und Gewimmel. Auch Bartimäus gibt nicht auf und lässt sich durch niemanden beirren. Jesus ruft ihn zu sich und da geschieht schon das Wunderbare. Er, Bartimäus, wirft seinen Mantel, alles was er hat, sein ganzes Gut, sein altes Leben hinter sich, springt auf und läuft zu Jesus hin. Und Jesus sagt nur: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Und Bartimäus kann sehen.

Keine Wunderheilung mit Brei auf den Augen, kein weiteres Wort. Noch eine Besoderheit dieser Geschichte. Bartimäus erkennt die Erlösungskraft des Messias, noch bevor durch Tod und Auferstehung die messianische Verheißung Jesu zur durchlebten Wirklichkeit wird.

Und Jesus sagt: „Geh!“

Und Bartimäus lässt sich bewegen. Er folgt Jesus auf seinem Kreuzweg. Er erkennt, dass wahres Leben, wahres Sehen nur durch das Kreuz möglich ist, ganz anders als die Jünger, die sich ängstlich zurückziehen und es schwer haben, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Es kommt also nicht darauf an, wie räumlich nahe wir Jesus sind. Es kommt darauf an, ob wir in der Christusnachfolge, durch das Kreuz hindurch, das Annahme allen Leidens bedeutet, das Leben erkennen, sehend werden. Muss man erst ganz unten sein, blind, arm, hoffnungslos, um Jesu Erlösungstat zu erkennen?

Jeder von uns kann seine neue Lebenswirklichkeit erkennen, ob in unseren Maßstäben gläubig oder nicht. Die Botschaft Jesu, dass wir alle schon so angenommen sind, wie wir sind, steht jedem offen. Uns als Menschen, die Jesus nicht mehr greifbar erleben können, kann diese Geschichte besonders wertvoll werden. Auch ohne körperliche Berührung sind wir durch ihn, nach dem wahren Leben suchend, zum Sehen eingeladen.

 

Emanuela von Branca

Die Autorin ist Diözesanbaumeisterin und leitet das Bauamt im Erzbischöflichen Generalvikariat Paderborn

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