„Es herrscht Chaos“
Wer garantiert in Zukunft die Qualität der Hebammenausbildung? Im Moment ist das ungeklärt. Foto: St. Vincenz
Erzbistum Paderborn. Seit 240 Jahren werden in Paderborn Hebammen ausgebildet. Damit könnte es bald ein Ende haben. Wie die Zukunft aussieht, ist ungeklärt. Das hätte schwerwiegende Folgen für die gesamte Region.
von Karl-Martin Flüter
In den kommenden Monaten treffen die ersten Bewerbungen bei Michaela Bremsteller ein. Das Online-Postfach der Leiterin der Hebammenschule auf dem St.-Vincenz-Campus für Gesundheitsfachberufe wird sich zusehends mit E-Mails junger Frauen füllen, die Hebamme werden wollen. Schon im Sommer beginnt Michaela Bremsteller damit, geeignete Bewerberinnen für den Hebammenkurs auszusuchen, der 2020 beginnt. Anfang 2020 stehen die meisten der etwa 25 Teilnehmerinnen für den neuen Ausbildungsjahrgang der Paderborner Hebammenschule fest.
An diesem Ablauf ist nichts ungewöhnlich. Das Interesse an der Ausbildung ist nach wie vor groß. 600 Bewerbungen lagen im letzten Jahr für die 25 freien Plätze vor, nur eine von 25 Bewerberinnen erhielt tatsächlich einen Ausbildungsplatz.
Tatsächlich ist in der Hebammenausbildung schon jetzt nichts mehr so, wie es mal war. 2020 tritt die EU-Richtlinie 2013/55/EU in Kraft. Sie legt Mindeststandards für die Ausbildung von Hebammen fest, darunter eine zwölfjährige Schulbildung als Zugangsvoraussetzung. Zwölf Jahre Schule, also ein Abitur oder Fachabitur, können nur Hochschulen, nicht aber Berufsschulen von Bewerbern einfordern. Die EU setzt auf diesem Wege durch, dass Hebammen ihre Ausbildung an einer Universität erhalten. Das ist auch das Ende für die Paderborner Hebammenschule in der bestehenden Form. Damit muss die Schule leben. Das größere Problem ist, dass Michaela Bremsteller ihren Schülerinnen bis heute nicht sagen kann, ob und wie sie ab 2020 in Paderborn ausgebildet werden.
Die EU-Richtlinie 2013/55/EU zielt auf ein einheitliches Niveau des Hebammenwesens in der EU. Hebammen dürfen, wenn sie nach diesen Vorgaben ausgebildet werden, überall in der Europäischen Union arbeiten. Im Moment ist deutschen Hebammen das nicht möglich, weil die Ausbildung hier, anders als in den meisten anderen Ländern, nicht akademisch ist. An der Änderung der Ausbildung ging deshalb kein Weg vorbei. Entsprechend hieß es im Vertrag der Berliner Großen Koalition: „Wir werden die Hebammenausbildung nach den EU-Vorgaben als akademischen Beruf umsetzen.“
Seitdem ist jedoch wenig geschehen, auch wenn Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Oktober 2018 einen Gesetzesentwurf ankündigte. Auch im NRW-Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) in Düsseldorf wartet man auf die gesetzlichen Vorgaben aus Berlin. Eigentlich sollte der Entwurf bereits vorliegen. Jetzt soll er zum Ende des ersten Quartals 2019 kommen. Bis dahin könne man auf Länderebene nichts machen, heißt es im MAGS, weil die Voraussetzungen für die Umsetzung nicht bekannt sind.
Barbara Blomeier regt diese abwartende Strategie auf. „Überall in Nordrhein-Westfalen stehen die Leute in den Startlöchern, wenn es um die neue Hebammenausbildung geht“, sagt die Vorsitzende des Landesverbandes der Hebammen in NRW. „Es ist kaum zu ertragen, dass man sich auf ministerieller Seite darauf ausruht, den Referentenentwurf abzuwarten.“
Es sei zwar verwaltungstechnisch der „schlauste Weg“, sich so herauszuhalten. Für den Berufsstand der Hebammen bedeute dieses Verhalten jedoch „Harakiri“. „Wir müssen wissen, wie es weitergeht.“
Auch in der Hebammenschule in Paderborn ist die Geduld erschöpft. Der St.-Vincenz-Campus für Gesundheitsfachberufe ist bereits aktiv geworden und sucht den Kontakt zu möglichen künftigen Partnern in einer akademisierten Hebammenausbildung.
„Wir wollen den Standort für Paderborn sichern und damit auch die praktische Ausbildung an der Klinik St. Louise“, sagt Andreas Riekötter, Leiter des Campus. „Wir brauchen Übergangsregelungen, damit keine Versorgungslücken entstehen.“ Die Schülerinnen müssten wissen, wie es weitergeht.
Die Zusammenarbeit zwischen Hebammenschule und der Klinik St. Louise ist eng. Das wird deutlich, wenn man den Campus besucht, der im Herbst 2017 in ein neues Gebäude in unmittelbarer Nähe der Frauen- und Kinderklinik gezogen ist. Die Klinik – Teil der St. Vincenz-GmbH – ist mit mehr als 2 000 Geburten im Jahr ein Level-1-Perinatalzentrum, in dem Risikoschwangerschaften und Risikogeburten betreut werden.
34 Hebammen arbeiten in der Klinik St. Louise. Noch findet Irene Meißner, die Leiterin im Kreißsaal, neue Mitarbeiterinnen. Doch die Bewerbungen werden weniger. Dass die Klinik St. Louise bei der Personalsuche vergleichsweise gut dasteht, habe mit dem „Klebeeffekt“ der Ausbildung im eigenen Haus zu tun, sagt Irene Meißner. Die Hebammenschülerinnen, die von überall aus Deutschland kommen, bleiben nach ihrer Ausbildung häufig in Paderborn und suchen hier eine Stelle. Das macht sich auch in den anderen geburtshilflichen Abteilungen in und um Paderborn positiv bemerkbar. Anderswo, vor allem in ländlichen Bereichen, fehlen Hebammen. Dass Paderborn deshalb als Ausbildungsort komplett aufgelöst wird, hält die Kreißsaalleiterin deshalb schlicht für nicht praktizierbar. Dr. Christine Schmücker, Leitende Oberärztin an der Klinik St. Louise, schlägt Alarm, wenn sie von solchen Optionen hört. „Wir können keine Hochrisikogeburten vornehmen, wenn uns die Hebammen fehlen“, betont sie. Der medizinische Betrieb wäre bedroht.
Das hätte Auswirkungen auf die gesamte Region. Die Klinik St. Louise versorgt Frauen in einem Einzugsbereich, der das gesamte Hochstift umfasst, das östliche Sauerland und Teile der angrenzenden Kreise Lippe, Gütersloh und Soest.
Als die Mitglieder der Kommunalen Gesundheitskonferenz im Dezember 2018 von den anstehenden Änderungen und den Konsequenzen für den Kreis Paderborn erfahren, waren sie unangenehm überrascht. Immerhin ist der Kreis in der Verpflichtung, die Versorgungssicherheit für Frauen sicherzustellen.
Vielleicht regt sich jetzt etwas in Paderborn. Andernorts sind die Menschen aktiv geworden, wenn sie erkannt haben, wie wichtig die Hebammenausbildung für die medizinische Infrastruktur der jeweiligen Region ist. Kommunalpolitiker, etwa in Aachen, melden sich mit Vorschlägen für eine eigene Hochschule, private Träger wie die Helios-Kliniken wollen einen neuen Studiengang finanzieren, um sich den Nachwuchs zu sichern, Hochschulen wie in Düsseldorf planen, Hebammenschulen zu übernehmen oder eigene Studiengänge einzurichten. Aus Ostwestfalen-Lippe fehlen jedoch bislang solche Vorstöße. Deshalb droht die Region, auch das Erzbistum Paderborn, die Entwicklung zu verschlafen.
Barbara Blomeier setzt auf das Modell eines praxisintegrierenden Studiums, das die Praxisorte stark einbezieht. Dieses Konzept können sich auch Andreas Riekötter und Michaela Bremsteller in Paderborn gut vorstellen.
Die Paderborner Hebammenschule würde dann zu einem starken Partner einer Universität. Die Hebammenausbildung am Standort bliebe, wenn auch eingeschränkt, erhalten. Eine Hochschule hat ihren Sitz unweit des St.-Vincenz-Campus: die Katholische Hochschule NRW, Abteilung Paderborn.
Anders als in Paderborn hat die Katholische Hochschule NRW am Standort Köln bereits Pläne entwickelt, berichtet Barbara Blomeier. Dort bestehen erste Absichten, einen Fachbereich für die Hebammenausbildung einzurichten. Dann würde in Köln die theoretische Ausbildung stattfinden. Paderborn könnte neben Aachen und Bensberg ein Standort für die praktischen Studieninhalte sein.
Die Hebammen-Vorsitzende Barbara Blomeier hält nicht viel von diesen Absichten. Die Standorte Köln und Paderborn würden viel zu weit auseinanderliegen, als dass sie eine effiziente Ausbildung garantieren können, ist sie überzeugt. Sie favorisiert eine Zusammenarbeit in der Region, etwa eine Kooperation der Paderborner Hebammenschule mit der medizinischen Fakultät in Bielefeld, die im Winter 2021 den Lehrbetrieb startet.
In NRW müssten vier Standorte für die akademische Hebammenausbildung eingerichtet werden, meint Blomeier. Bochum, wo bereits ein Studienbereich Hebammenwissenschaft besteht, ist gesetzt, Köln scheint ebenfalls unumstritten zu sein. Blomeier schlägt zudem zwei Standorte in Westfalen vor, einen davon in Münster. Der zweite müsste in OWL liegen.
Sollte es anders kommen und die Hebammenausbildung in Paderborn nach 240 Jahren doch vor dem Ende stehen, hätte das tiefgreifende Folgen, nicht nur für die sechs pädagogischen Mitarbeiterinnen in der Hebammenschule und nicht nur für die Klinik St. Louise, die vor ernsthaften Schwierigkeiten stünde, den Personalschlüssel und damit die Qualität zu halten. Die Konsequenzen reichten weiter. Im Erzbistum Paderborn würde keine katholische Einrichtung mehr Hebammen ausbilden, in ganz Westfalen-Lippe gäbe es keinen Ausbildungsstandort. Heute arbeiten im Bereich des Landschaftsverbandes noch drei Schulen – und zwar in Paderborn, Minden und Rheine.
Eine ganze Region würde abgehängt. Woher soll dann der Nachwuchs kommen? Und wie kann Schulleiterin Michaela Bremsteller Bewerberinnen beruhigen, die sich Sorgen um ihre berufliche Zukunft machen, wenn sie selbst nicht weiß, wie es ab 2020 weitergeht? „Es herrscht Chaos“, sagt Andreas Riekötter.
Es geht auch anders. Wie, machen die Bayern vor. Dort können angehende Hebammen ab diesem Jahr in Landshut, Regensburg und München Hebammenkunde studieren. 100 Hebammen werden an den Hochschulen im Jahr ausgebildet – während die Politiker in Berlin und Düsseldorf weiter an ihren Gesetzen basteln.