24.03.2022

„Frieden zu schaffen ist eine Kunst“ – Dr. Gudula Frieling im Interview

„Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen“ steht auf dem Schild, mit dem sich Marina Owsjannikowa in die russischen TV-­Nachrichten schmuggelte.

Auf einmal wird wieder ganz selbstverständlich von Waffen geredet, die helfen sollen, den Krieg in der Ukraine einzudämmen. Gibt es wirklich keine anderen Möglichkeiten? Ein Gespräch mit der Dortmunder Theologin Dr. Gudula Frieling, Referentin bei pax christi. Mit Dr. Frieling sprach Claudia Auffenberg.

Frau Dr. Frieling, „Frieden schaffen ohne Waffen“, war das nur ein schöner Traum, von dem wir uns nun endgültig verabschieden sollten?

Dr. Gudula Frieling: „Nein, keineswegs! Waffen bedeuten eine ständige Drohung im Hintergrund und das hat mit Frieden nichts zu tun. Das Prinzip der Abschreckung steigert diese Drohung ins Absolute. Gerade jene Waffensysteme, die die Risiken für die eigene Seite reduzieren, wirken auf die Gegenseite umso bedrohlicher. Das Geld, das für Waffen ausgegeben wird, fehlt an anderer Stelle, um die Probleme anzugehen, mit denen wir auch noch kämpfen, der Klimawandel etwa oder die Bekämpfung des Hungers. Dass in der Ukraine nicht ungestört ausgesät werden kann und wir infolgedessen mit Ernteausfällen zu rechnen haben, ist eine zusätzliche Katastrophe.“

Trotzdem ist im Moment der Eindruck da, dass es jetzt Waffen braucht, um den Aggressor in Schach zu halten, die Regierung stellt der Bundeswehr 100 Milliarden zur Verfügung. Was würden Sie mit dem Geld machen?

Dr. Gudula Frieling: „Wir brauchen Investitionen in den Frieden. Frieden zu schaffen und zu halten, ist eine Kunst, in die man Geld stecken sollte. „Gewaltfrei handeln e. V.“ und „Forum Ziviler Friedensdienst“ (ZFD) bilden seit Jahrzehnten Friedensfachkräfte aus, die in Krisengebiete gehen und präventiv und konkret in Konflikten verhandeln. Eine Leitidee dabei ist, die Interessen der Gegenseite zu verstehen, nicht um sie gutzuheißen, aber man muss sie wahrnehmen, denn man muss letztlich mit ihr leben lernen. Uns Christen gilt die Aufforderung, den Feind zu lieben, und das heißt, mit dem Feind zu verhandeln. Gerade mit dem, der Schlimmes getan hat, müssen wir reden und nach Auswegen suchen. Deshalb müssen jetzt die Gesprächskanäle nach Russland offengehalten und intensiv genutzt werden. Ein anderes Feld ist die Friedensarbeit etwa an Schulen, wo mit Schülerinnen und Schülern die Bereitschaft eingeübt wird, aus der Sicht des anderen zu denken und sich auch mit deren Ängsten auseinanderzusetzen.“

Würden Sie sich trauen, dem ukrainischen Präsidenten etwas von Feindesliebe zu erzählen? Er bittet weltweit um Waffen, in der vergangenen Woche auch im Bundestag. 

Dr. Gudula Frieling: „Ich sehe die große Not des Präsidenten, aus der heraus er diese Appelle formuliert. Aber Waffen sind keine Lösung! Auf beiden Seiten stehen sich Menschen gegenüber – Menschen, die gezwungen werden, diesen Krieg zu führen. Das gilt für die russische Seite, aber leider auch für die ukrainische. Schon 2015 hat sich der ukrainische Pazifist Ruslan Kotsaba geweigert, in den Krieg gegen die abtrünnigen Gebiete in der Ostukraine zu ziehen, weil er nicht auf seine Brüder und Schwestern schießen wolle. In der Ukraine gibt es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Das ist ein Grundrecht, das ein Staat seinen Bürgern einräumen muss.“

Und wie könnte eine Lösung jetzt aussehen?

Dr. Gudula Frieling: „Wir brauchen eine neue europäische Friedens- und Sicherheitsordnung, die die osteuropäischen Länder mit einbezieht, auch Russland. Wenn die Ukrai­ne zeitweise auf Souveränitätsrechte verzichtet, ist zumindest das Blutvergießen vorbei. Mit einem Mix aus aktivem gewaltfreiem Widerstand, Sanktionen und Anbieten einer ökologischen Friedenskooperation können dann Lösungen erreicht werden, über die jetzt diskutiert wird: Die Ukraine kommt als souveräner Staat zu Europa, es gibt eine entmilitarisierte Zone mit gemeinsamen Sicherheitsgarantien. Gleichzeitig, wirklich gleichzeitig müssen Abrüstungsverhandlungen aufgenommen werden. Abschreckung hat uns auch nicht weitergebracht, das sehen wir ja gerade. Deshalb verstehe ich nicht, warum sich der Bundestag so sicher ist, dass mit 100 Milliarden mehr der nächste Krieg verhindert werden kann. Ein Mehr an Waffen schafft auch ein Mehr an Angst und gibt letztlich einem brutalen Herrscher wie Putin ein Argument, dass er auch aufrüsten muss.“

Aber im Moment scheint es logisch zu sein, aufzurüsten und Waffen zu liefern.

Dr. Gudula Frieling: „Aus dieser Logik müssen wir raus. Wir von pax christi plädieren für eine Friedenslogik. Wir müssen kooperativ und vom Ziel her denken. Nicht so sehr: Was war? Sondern: Wo wollen wir hin? Es macht frei, damit aufzuhören, zurückzuschauen und aufzurechnen. Bertha von Suttner hat schon im 19. Jahrhundert eindrucksvoll beschrieben, wie man den Soldatenberuf mit viel Lorbeer schmückte, um vergessen zu machen, was der Kern eines Krieges ist: Es gibt Orden, gutes Gehalt, Aufstiegsmöglichkeiten und von der Kirche den Segen. Aber der Kern des Krieges ist und bleibt: Einer tötet einen anderen. Auf beiden Seiten bleiben Menschen zurück, die unermesslich trauern. Wir müssen auf Gott hören, der uns fragt: Wo ist dein Bruder Abel? Und der uns die Sorge um ihn aufgetragen hat. Und wir müssen uns an die Kraft der Vergebung erinnern.“

Ist das nicht naiv? Die Leute in der Ukraine gucken doch gewissermaßen in einen Gewehrlauf. 

Dr. Gudula Frieling: „Die Frage verstehe ich, aber an jedem Tag, an dem gekämpft wird, sterben Menschen. Und je mehr Opfer erbracht wurden, umso schwieriger wird es, Frieden zu schließen. Militärische Gegenwehr kann einfach keine Lösung sein. Wie können wir der Spirale von Gewalt und Gegengewalt entkommen, wenn nicht eine Seite den Anfang macht? Irgendwann muss doch verhandelt werden.“

Auch mit dem Aggressor?

Dr. Gudula Frieling: „Ja, auch mit ihm. Ansonsten drohen Eskalation und eine Ausweitung des Krieges. Selbst ein Krieg zwischen den Atommächten Russland und ­NATO ist in den Bereich des Denkbaren gerückt. Dann wäre alles verloren! Auch beim konventionellen Krieg trägt die Zivilbevölkerung, tragen die Kinder die Kosten. Ich möchte daran erinnern: Die schlimmsten Verbrechen geschahen im Krieg. Es ist sehr gefährlich, sich in einem Krieg auf der richtigen Seite zu wähnen.

Ein Krieg führt zu einer vereinfachten Wahrnehmung und dem Eindruck, man selbst sei auf der richtigen Seite. So werden eigene Interessen etwa an der Sicherung von Handelswegen oder die der Waffenlobby vertuscht. Aber ich töte Menschen. Was ist, wenn ich mich irre? Das ist in der Friedenstheologie ein entscheidendes Argument gegen das Kriegführen: Menschen können sich irren, sich fehlleiten, sich verführen lassen, in kollektive Psychosen verfallen, aber wenn der Tod im Spiel ist, können sie den Irrtum nicht korrigieren. Es gibt jedoch wirksame und inzwischen auch gut erforschte Methoden des zivilen Widerstandes.“

Gibt es Kräfte, die so agieren und die jetzt gestärkt werden müssen?

Dr. Gudula Frieling: „Ja, es gibt in der Ukraine und in Russland pazifistische Gruppen und zivilen Widerstand. Es gab die Journalistin Marina Owsjannikowa, die sich mit einem Plakat gegen den Krieg in die Live-­Ausstrahlung der Hauptnachrichtensendung geschmuggelt hat. Es gibt Menschen, die sich vor einen Panzer stellen und darauf setzen, dass im Panzer auch ein Mensch sitzt, der es nicht übers Herz bringt, weiterzufahren.“

Sich vor einen Panzer zu stellen, erfordert allerdings geradezu Todesmut.

Dr. Gudula Frieling: „Mit Waffen in den Krieg zu ziehen auch! Und das machen viele Leute nicht freiwillig, aber was ich freiwillig tue, tue ich mit einer anderen Überzeugung. Im gewaltfreien Widerstand kann ich meine menschlichen Kräfte voll entfalten, ohne einem anderen Böses tun zu müssen. Es gibt Untersuchungen, nach denen gewaltfreie Widerstandsbewegungen erfolgreicher sind als andere und vor allem sind sie nachhaltiger im Aufbau demokratischer Strukturen. Denn solcher Widerstand produziert nicht annähernd so viel traumatisierte Menschen, die Infrastruktur bleibt bestehen und es können sich sehr viel mehr Menschen beteiligen.

Alle Bevölkerungsgruppen können dabei sein, jeder kann überlegen: Wie weit gehe ich? Jeder kann entscheiden, welchen Grad an Mut er oder sie aufbringen möchte. Jetzt dagegen werden Männer verpflichtet, Waffen in die Hand zu nehmen und Familien werden getrennt. Das ist doch furchtbar! Und es ist eben keine Zeitwende, das ist wie seit Urzeiten: Männer ziehen in den Krieg und meinen, das sei wichtiger, als bei ihren Familien zu bleiben und sich um ihre Kinder zu kümmern. Das wäre anders bei der Form des zivilen Widerstandes, die Ausbildung braucht und auf die man sich gut vorbereiten kann.“

Das klingt nach einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe. Wer müsste damit anfangen? 

Dr. Gudula Frieling: „Wenn wir eine Friedenskultur in unserer Gesellschaft verankern wollen, dann ist Friedensbildung an den Schulen sehr wichtig, entweder als eigenes Fach oder als Thema, das in allen Fächern vorkommt. Darüber hi­naus könnte sich die Gesellschaft entscheiden, großflächig Fortbildungsangebote zur sozialen Verteidigung anzubieten. Wir fordern, mindestens zehn Prozent der zusätzlichen Militärausgaben in zivile Konfliktbearbeitung und Krisenintervention zu stecken. Dass jetzt auf einmal sehr viel Geld für den Militärhaushalt da ist, irritiert mich sehr. Deutschland sollte vielmehr seine Beiträge für die ­UNO oder die ­OSZE deutlich erhöhen, um da Friedensförderung zu unterstützen.“

Aber um diese Dinge initiieren zu können, bräuchte es in einer Demokratie eine politische Kraft. Sehen Sie die irgendwo?

Dr. Gudula Frieling: „‚Sicherheit neu denken‘ ist mit Bundestagsabgeordneten der CDU, der Grünen, der SPD, der FDP und der Linken im Gespräch, übrigens auch mit Menschen aus der Bundeswehr. Denn dort sieht man ja, dass sie in Afgha­nistan nicht erfolgreich war. Auch in der Bundeswehr sind Leute, die sehen, dass Sicherheit letztlich nicht mit militärischen Mitteln erreicht werden kann.“

[…]

Wie sehen Sie die Rolle der Kirchen in Osteuropa? 

Dr. Gudula Frieling: „Die Position des Moskauer Patriarchen Kyrill treibt mir die Tränen in die Augen. Menschen geben ihr Bestes in ihren Glauben und vertrauen ihren religiösen Führern. Deswegen ist es sehr dramatisch, wenn sie jetzt in Hass und in ein Feindbilddenken gelenkt werden – und gerade Menschen, denen es schlecht geht, neigen dazu, auf so etwas zu hören. Einen Feind zu haben, dem man die Schuld geben kann, entlastet Menschen. Das ist ein menschlicher Mechanismus.

Aber unsere Aufgabe als Christen ist es, das Gegenteil zu tun, also diesen Mechanismus zu durchschauen und zu durchbrechen – in Ost und West. Deshalb bedaure ich es sehr, dass die deutschen Bischöfe die massive Erhöhung der Militärausgaben für legitim halten. Wer sich der Bergpredigt verpflichtet sieht, kann das nicht gutheißen. Von Feindesliebe zu reden und sie zu praktizieren, ist nicht leicht, aber es ist unser Auftrag. Wir müssen es schaffen, davon zu sprechen, ohne die Menschen alleinzulassen, die jetzt entwurzelt sind und nicht mehr ein noch aus wissen. Es geht nicht darum, den Feind schön zu reden, aber ­Yitzhak ­Rabin hat einmal gesagt: „Man schließt nicht mit Freunden Frieden, sondern mit Feinden.“ Das ist die Heraus­forderung.“

Dr. Gudula Frie­ling ist Theologin, Klimaaktivistin und Mitarbeiterin im Ökumenischen Institut für Friedenstheologie (OekiF).

Zur Person

Dr. Gudula Frie­ling ist Theologin und Klimaaktivistin, Mitarbeiterin im Ökumenischen Institut für Friedenstheologie (OekiF), Multiplikatorin von „Sicherheit neu denken“, seit Mitte Februar Projektreferentin Aktive Gewaltfreiheit bei pax christi – Deutsche Sektion e. V. 

Das vollständige Interview können Sie in der aktuellen DOM-Ausgabe nachlesen. Schauen Sie mal rein, es lohnt sich bestimmt.

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