Gläubige sind nicht die Kunden der Kirche – Ulrich Windolph blickt auf die Kirche
Ulrich Windolph ist seit 2008 Chefredakteur der Tageszeitung „Westfalen-Blatt“. (Foto: Patrick Kleibold)
Über die Zukunft der Kirche wird nicht nur in der Theologie oder in kirchlichen Gremien geredet. Auch „normale“ Katholiken machen sich Sorgen. Was können sie aufgrund ihrer Expertise aus anderen Bereichen beitragen? Darum geht es in dieser Gesprächsreihe. Heute: Journalist Ulrich Windolph.
Herr Windolph, wie sehen Sie als Journalist die Kirche, die ja auch Ihre Kirche ist?
Ulrich Windolph: Als Journalist sehe ich die Kirche, wie ich alles sehen muss und auch gerne sehen möchte, nämlich kritisch-konstruktiv. Ich möchte aber nicht verhehlen, dass es zuletzt oft schwierig war, konstruktiv zu bleiben. Als Kirchenmitglied schaue ich beschämt auf die vielen Fälle sexualisierter Gewalt und den Umgang damit. Und als katholischer Christ bin ich trotzdem hoffnungsvoll und fühle mich behütet, weil ich mir meinen Glauben nicht nehmen lassen will. Mein Gottvertrauen lässt sich durch die Kirche nicht erschüttern.
Was würden Sie den Verantwortlichen der Kirche empfehlen und wie sollte sich Kirche medial präsentieren und kommunizieren?
Ulrich Windolph: Journalisten sollten keine Berater sein und im Übrigen auch keine Richter, sondern zuallererst Berichterstatter und als solche zwar meinungsstark auftreten, aber auch gut zwischen Nachricht und Kommentar zu trennen wissen. In Krisen ist die eigentliche Krise das eine, das andere ist der Umgang damit. Ohne einen einzelnen Fall sexualisierter Gewalt zu verniedlichen oder in seiner Brutalität zu verharmlosen, würde ich sagen, dass ein großer Schaden auch dadurch entstanden ist, wie die katholische Kirche die vielen Tausend Missbrauchsfälle bislang aufgearbeitet hat. Mein erster Leitartikel zu diesem Thema stammt von Ostern 2010. Leider ist immer noch vieles von diesem Kommentar richtig und aktuell – und das hat nichts mit der Qualität des Leitartikels zu tun, sondern mit den Dingen, die in den letzten 13 Jahren geschehen oder eben oft auch nicht geschehen sind.
Was war Ihr damaliger Kerngedanke?
Ulrich Windolph: Dass die Fälle sexualisierter Gewalt erst einmal den Menschen zuzuschreiben sind, die sie begangen haben. Die Täter sind die Täter und sie müssen ausfindig gemacht und verurteilt werden. In dem Leitartikel steht aber auch, dass die Kirche eine Mitschuld trägt, weil sie zu sehr ihre Würdenträger geschützt hat und um sich selbst besorgt war. Und dieser graue Schleier liegt für mich auch heute noch zu sehr über dem gesamten Aufarbeitungsprozess.
Hat sich aus Ihrer Sicht etwas zum Positiven verändert oder dreht sich die Kirche immer noch im Kreis?
Ulrich Windolph: Ich glaube, dass sich sehr viel verändert hat. Ich glaube jedoch auch, dass die katholische Kirche bei den Menschen, die sich nicht täglich mit ihr und ihrem Innenleben beschäftigen, überhaupt nicht mehr durchkommt. Es ist zu viel Vertrauen verloren gegangen und es wurde zu viel Porzellan zerschlagen. In der Werbung gibt es den Satz: Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Dieser erste Eindruck vom Aufarbeitungswillen bzw. vom Nichtaufarbeitungswillen hat bei unfassbar vielen Menschen das Bild der katholischen Kirche (teils auch zu Unrecht) sehr stark und sehr einseitig geprägt. Das finde ich sehr schade für die Millionen von Menschen, die sich nach wie vor in der Kirche zu Hause fühlen und auch für die vielen Hunderttausend Menschen, die sich nach wie vor in dieser Kirche engagieren. Die Schuld liegt nicht bei diesen Menschen, trotzdem erlebe ich, wie sie mit in eine kollektive Haftung genommen werden.
Man sagt Journalisten nach, dass sie sehr kirchenkritisch sind. Erleben Sie das in Ihrem persönlichen Umfeld, dass Sie sich rechtfertigen müssen dafür, dass Sie als Journalist Mitglied dieser Kirche sind?
Ulrich Windolph: Das erlebe ich überhaupt nicht. Ich sehe es als unsere Verpflichtung an, über die Kirche zu berichten, schließlich hat sie weiterhin eine Relevanz. Allen Austrittszahlen zum Trotz ist eine erstaunliche Zahl der Deutschen weiterhin Mitglied der Kirchen. Klar haben die Medien über die massiven Austrittszahlen begierig berichtet, doch man kann die Perspektive auch mal umdrehen: Welche andere Institution hat heute noch eine Mitgliederdurchdringung von knapp 50 Prozent der Gesamtgesellschaft? Ich möchte auch betonen, dass wir uns glücklich schätzen können, sowohl das Erzbistum Paderborn als auch die Evangelische Kirche von Westfalen in unserer Region vertreten zu haben.
In unserer Gesellschaft werden Dinge generell oft negativ gesehen. Die Verantwortung dafür jedoch allein bei den Journalisten und den Medien zu suchen, halte ich für falsch. Zuallererst liegt die Verantwortung in der Kirche, denn je zögerlicher sie mit Krisen und Problemen umgeht, desto stärker verfestigen sich die Krise und die Probleme. Es gibt viele Menschen, die akzeptieren können, dass Fehler passieren, auch wenn es für eine Moralinstanz wie die katholische Kirche sehr gravierende Fehler sind. Doch wenn diese Moralinstanz ihren Anspruch dann trotzdem behalten will, ist sie mehr als andere aufgefordert, aufzuklären und aufzuarbeiten. Der Schaden und das Versagen können zwar nicht geheilt werden, aber dass die Opferperspektive immer vor der Täterperspektive stehen muss, das ist wohl selbstverständlich.
Was antworten Sie abends beim Bier auf die Frage: Warum bist du noch Kirchenmitglied?
Ulrich Windolph: Die Frage wird mir selten gestellt. Als Christ finde ich das aber nicht sonderlich beruhigend, denn Kirchenmitgliedschaft und manchmal auch Christsein ist offenbar für sehr viele Menschen kein Thema mehr.
Sie deuten damit den Relevanzverlust der Kirche an, den wir als Medien ja auch erleben. Wie gehen Sie damit um? Welche Strategien haben Sie, um Vertrauen und Abonnenten zu gewinnen?
Ulrich Windolph: Kundengewinnung ist etwas anderes als das Gewinnen von Gläubigen, denn die Gläubigen sind nicht die Kunden der Kirche. Womöglich besteht eine Beziehung eher zu Gott als zur Amtskirche. Und ich würde sagen, in den dunkelsten Stunden der Amtskirche ist es ein Segen, dass man auch noch einen höheren Bezugspunkt finden kann.
Doch was tun wir? Wir müssen uns einen ganz anderen Blick dafür aneignen, was unsere Leserinnen und Leser – wir können von Kundinnen und Kunden sprechen – von uns erwarten und wollen. Das journalistische Bauchgefühl kann dabei nicht das alleinige Entscheidungskriterium sein. Und unsere Geschichten müssen relevant für die Kundschaft sein und nicht nur für uns selbst. Ich finde natürlich immer, dass meine Leitartikel die allerbesten sind, muss aber feststellen, dass das nicht alle unsere Leserinnen und Leser so sehen. Und für gewöhnlich ist es ja so, dass die Mehrheit schon ein einigermaßen verlässlicher Indikator dafür ist, wie Dinge liegen.
Die Kirche ist gerade weniger glaubwürdig. Für uns als Journalisten ist Glaubwürdigkeit auch von größter Bedeutung.
Ulrich Windolph: Das englische Sprichwort „Be fast, but first be right“ (Sei schnell, aber sei zuerst richtig) gilt für Journalisten unverändert, gerade in Zeiten der Digitalisierung und der sehr schnellen Möglichkeit zur Berichterstattung, teils sogar in Echtzeit, und das auf unterschiedlichen Medienkanälen.
Aber ich glaube, für die Beziehung, die wir zu unseren Kunden haben oder sie zu uns, ist auch wichtig, ob die Menschen eine Zeitung – gern auch digital – weiterhin für unverzichtbar oder unentbehrlich halten. Die Frage lautet: Wollen sich Menschen in Zeiten wie diesen noch eine Zeitung leisten?
Macht es Ihnen Sorge, dass immer mehr Menschen ihre Informationen aus mehr oder weniger unseriösen Medienkanälen beziehen?
Ulrich Windolph: Ich finde, das muss uns in doppelter Hinsicht Sorge machen, sowohl journalistisch als auch gesamtgesellschaftlich. Wir sind ja als Berichterstatter nicht Außenstehende, sondern ein Teil dieser Gesellschaft. Oder anders: Journalistinnen und Journalisten sind auch Bürger.
Ich weiß aber auch nicht, ob wir früher immer alle Menschen erreicht haben. Ich wäre vorsichtig zu behaupten, dass die Durchdringung mit qualifizierter Berichterstattung vor vier oder fünf Jahrzehnten höher war, nur weil die Druckauflagen der Tageszeitungen höher waren. Die waren auch deshalb höher, weil es weniger Alternativen gab. Dass wir heute insgesamt weniger Menschen erreichen, glaube ich nicht. Im Gegenteil: Ich glaube, wir hatten niemals eine so große Reichweite wie heute. Aber die Frage ist: Was machen wir mit den Menschen, die felsenfest davon überzeugt sind, dass alles von einer „großen Hand“ gesteuert ist und ich jeden Morgen das Briefing direkt aus dem Kanzleramt empfange?
Die zentrale Frage für die Zeitungshäuser ist aktuell, ob es ihnen gelingt, das Geschäft so zu monetarisieren, dass es auch weiterhin auskömmlich betrieben werden kann. Die betriebswirtschaftliche Situation ist eben einen andere als die journalistische. Für Journalisten waren die Möglichkeiten noch nie so gut wie heute: Jeder Journalist kann sein eigener Fernsehsender sein, es zum Youtube-Star bringen, sogar zu einem echten politischen oder gesellschaftspolitischen Influencer werden. Richtig ist aber auch, dass jeder über diese Medien den größten Unfug in die Welt senden kann und auch das findet offenkundig ein sehr gläubiges Publikum.
Vertreter der Kirche erleben, dass sie diffamiert werden. Auch Sie stehen in der Öffentlichkeit. Haben Sie auch schon persönliche Diffamierungen erlebt und wie gehen Sie damit um?
Ulrich Windolph: Diesbezüglich haben wir in Ostwestfalen-Lippe ein riesiges Glück. Solche Diffamierungen habe ich noch nicht erlebt. Das ist bestimmt kein persönlicher Verdienst, denn an unserer Arbeit in der Redaktion gibt es oft genug Grund zur Kritik. Das ist zwar was anderes als Diffamierung, kann aber auch sehr unangenehm sein. Glücklicherweise bin ich bisher von jeder Form der Diffamierung verschont geblieben. Als Zugereister erkläre ich mir das damit, dass die Menschen hier in der Region sehr bodenständig und sehr klar sind in dem, was sie sagen. Ich erlebe hier eine gewisse Festigkeit im Handeln und im Reden. Das schätze ich sehr.
Für Journalisten heißt es häufig: „Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“. Wie geht es Ihnen als Katholik damit, in erster Linie nur schlechte Nachrichten über Kirche zu drucken?
Ulrich Windolph: Als Journalist kann ich nicht als Mitglied der Kirche handeln. Aber als Mensch leide ich an diesem Zustand und das trägt sich auch in den Journalismus hinein. Manches kann ich nur mit großem Unverständnis aufnehmen, oftmals wünsche ich mir mehr Entschlossenheit in der Kirche. Aber die einzelne Nachricht ist eine Nachricht, die ich mir vorurteilsfrei ansehen muss. Und es ist auch nicht so, dass wir über Pressekonferenzen beispielsweise zur MHG-Studie oder den Aufarbeitungsbemühungen in den einzelnen Bistümern groß berichten und sonst Kirche in allen ihren positiven Facetten außer Acht lassen. Wir versuchen den Dingen immer bestmöglich auf den Grund zu gehen, den kritischen, aber auch den vielen positiven Geschichten, die Kirche auch ausmachen.
Der Vorwurf, ihr bringt immer nur schlechte Nachrichten, der steht aber im Raum. Ist das also ein subjektiver Eindruck?
Ulrich Windolph: Ich nehme die Klage durchaus ernst, dass wir die Neigung haben, erst mal das Kritische nach vorne zu stellen. Das gehört aber dazu. Es ist eine journalistische Kernaufgabe, den Finger in die Wunde zu legen. Umgekehrt höre ich oft von Menschen, wir seien nicht kritisch genug gewesen. Warum habt ihr nicht noch genauer hingeguckt? Es kann dann aus meiner Sicht auch nicht richtig sein, sich kritische Berichterstattung in allen Bereichen zu wünschen, außer wenn sie einen selbst betrifft.
Welche positive Schlagzeile zur Kirche würden Sie gerne drucken?
Ulrich Windolph: Mit Blick auf die sexuelle Gewalt würde die Schlagzeile lauten: „Katholische Kirche will mit staatlicher Hilfe vorbehaltlos aufklären. Fürsorgepflicht für Täter kein Argument mehr“. Für die Kirche insgesamt würde ich mich – mehr als Christ denn als Journalist – über die Schlagzeile freuen: „Kirche stellt Glauben wieder in Mittelpunkt“.
Haben Sie schon einmal über einen Kirchenaustritt nachgedacht?
Ulrich Windolph: Nein, habe ich nicht, weil mir der Glauben Halt gibt, einen Halt, den ich für mich bewahren kann, den ich aber auch nicht rechtfertigen möchte. Bisher gab es keinen Grund, mir diesen Glauben nehmen zu lassen.
Mit Ulrich Windolph sprachen Patrick Kleibold und Andreas Wiedenhaus
Zur Person
Geboren in Duderstadt im Eichsfeld, arbeitet Ulrich Windolph seit 1996 beim Westfalen-Blatt. Zunächst in Schloß Holte-Stukenbrock, Gütersloh, Bielefeld, Herford, kam er 2000 in die Nachrichtenredaktion, war Produktionsredakteur und stellvertretender Nachrichtenleiter. Seit 2008 ist er als Chefredakteur für die Leitung der Gesamtredaktion zuständig.
Hier kommen Sie zum dem letzten Beitrag aus der Reihe mit dem Politiker Dr. Peter Liese.