Glaube und Tradition
Auch in Sundern-Stockum gibt es eine Kreuztracht. Foto: Nückel
Menden. Ab Gründonnerstagabend werden die Kreuztrachten in Menden wieder zwei Nächte und einen Tag hindurch von der St. Vincenz-Kirche zur Kapelle auf dem Kapellenberg und zurück gehen. Diese Kreuztrachten sind – nicht nur im Erzbistum Paderborn – einmalig.
Der Platz vor der St. Vincenz-Kirche in Menden ist voller Menschen. Viele Fami-
lien mit Kindern haben sich hier eingefunden. Es ist Karfreitag, kurz vor 17.00 Uhr. Pünktlich zur vollen Stunde beginnt die Kreuztracht, die von einigen Kindergärten mitgestaltet wird.
18 Kreuztrachten haben seit dem Abend des Gründonnerstages bereits stattgefunden. 13 weitere werden bis zum frühen Morgen am Karsamstag folgen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts werden die Kreuzwege – fast unverändert – in dieser Form gegangen.„Die ersten Hinweise auf zunächst noch private Abendwallfahrten zur Kapelle auf dem Rodenberg, verbunden mit einem Besuch der Fußfallstationen in der Karwoche, sind aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überliefert“, heißt es in der Chronik der Gemeinde. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts seien dann so viele Gläubige in den Ort im märkischen Sauerland gekommen, dass der damalige Pfarrer Johannes Eberhard Zumbroich sich gezwungen sah, eine Prozessionsordnung zu erlassen. Denn mit dem Ablauf, der sich bis dahin eingebürgert hatte, war er nicht einverstanden.
Zur heutigen Ordnung gehört, dass die Kreuzträger ihren Nachfolgern das etwa 18 Kilo schwere Kreuz weiterreichen für die nächste Prozession. Nach dieser Übergabe gehen die Gläubigen den Leidensweg Jesu nach. An den „Fußfallstationen” wird Halt gemacht und andächtig gebetet.Die beiden Kreuzträger tragen Perücken, deren langes Haar ihr Gesicht verdeckt. Der Christusdarsteller ist bei der Hauptprozession mit einer weißen Tunika und einer scharlachroten Toga bekleidet. Sonst tragen er und der Darsteller des Simon von Cyrene eine braune Tunika. Durch die Perücken und Schminke sind beide nicht zu erkennen.
Völlig geheim ist es in Menden jedoch nicht, wer das Kreuz trägt. „In der Andacht am 1. Fastensonntag wird ausgelost, wer zu welcher Uhrzeit an der Reihe ist“, erläutert der Kreuzmeister Markus Ellert. Alle, die sich für diesen Dienst gemeldet haben, sind in dieser Andacht zugegen. Die Gläubigen, welche die Andacht mitfeiern, sehen dadurch die Kreuzträger. „Aber niemand bekommt mit, wem welche Stunde zugelost wurde“, betont Ellert.
Für die 32 Prozessionen werden insgesamt 64 Kreuzträger und je ein Kreuzbegleiter benötigt. Ausgelost werden heute aber nur noch die Jesus-Darsteller, die ihren „Simon von Cyrene“ und den Kreuzbegleiter jeweils mitbringen müssen. Früher konnte es sein, dass jemand zwei oder drei Jahre zur Auslosung kam, ohne einen Kreuzweg zugeteilt zu bekommen – so groß war die Zahl der Bewerber. „Heute muss ich auch schon mal jemanden fragen, ob er das Kreuz trägt“, meint Ellert und fügt hinzu: „Aber in diesem Jahr hatten wir gute Meldungen.“
Die Kreuzträger sind zwischen 16 Jahren und Mitte 60, manchmal auch älter. Eines hat sich gegenüber dem Ursprung der Kreuztrachten geändert: „Seit einiger Zeit tragen auch Frauen das Kreuz – und es werden immer mehr“, berichtet Markus Ellert.
Die Kindergartenkinder und ihre Eltern, die an der 17.00-
Uhr-Kreuztracht teilnehmen, wissen ebenso wenig wie die anderen Gläubigen, wer ihnen vorangeht. Es könnte theoretisch eine Erzieherin sein, es können aber auch völlig unbekannte Männer oder Frauen sein. Relativ zügig bewegt sich die Prozession von Fußfallstation zu Fußfallstation. Der Kreuzbegleiter achtet auf das Tempo der beiden Träger. Das ist unbedingt nötig. „Da die Kreuzträger nur auf ihre Füße schauen, haben sie keine Orientierung. Ohne den Begleiter würden sie einfach losrennen“, weiß Markus Ellert.
Auch bei dem von den Kitas gestalteten Kreuzweg wird die Zeit strikt eingehalten. Doch an der 4. Station teilt sich die Prozession. Die Kindergartenkinder, ihre Eltern und die Erzieherinnen nehmen eine kürzere Strecke. Die Zahl der Menschen, die weiter Richtung Kapellenberg zieht, ist jedoch immer noch groß.
„Gerade zu den gestalteten Prozessionen kommen viele Menschen“ sagt Markus Ellert. Das sind die Kreuztrachten, die von umliegenden Pfarrgemeinden, Kitas oder anderen Gruppen getragen werden. Es hat allerdings auch eine große Verschiebung gegeben. Die Hauptprozession am Morgen des Karfreitags, zu der früher mehr als 10 000 Menschen nach Menden strömten, ist nicht mehr diejenige, welche die meisten Gläubigen anzieht. Zwischen 2 000 und 3 000 Christen nehmen noch an der Hauptprozession teil. 5 000 bis 6 000 Menschen kommen dagegen um 21.00 Uhr am Gründonnerstagabend zu der von Jugendlichen gestalteten Kreuztracht. Diese Prozession, deren Anfänge bis in das Jahr 1948 zurückgehen, ist mittlerweile eine Familienprozession geworden, sagt Markus Ellert. Über die Gründe kann man nur spekulieren. „Durch die Fackeln sowie die Beschallung mit Liedern und Gebeten in der Nacht ist diese Prozession sehr eindrucksvoll“, nennt der Kreuzmeister einen Grund für den Zulauf. Mit ihrer Deutung der Passion sowie des Elends und Leids in der Welt ist die Jugendkreuztracht zudem sehr zeitgemäß. Eine andere Ursache, warum es einen Wechsel von der „Großen Kreuztracht” zur Jugendkreuztracht gegeben hat, ist möglicherweise eher profan: Die „Große Kreuztracht“, die am Karfreitag um 9.00 Uhr beginnt, könnte manchem zu früh sein.
Insgesamt ist die Teilnahme an den Kreuztrachten zurückgegangen. Doch mehr als 10 000 Gläubige gehen bei den 32 Prozessionen immer noch mit. „Nachts sind es oft Familienmitglieder, welche die Kreuzträger begleiten“, sagt Markus Ellert. Aber manchmal finden sich auch um zwei oder drei Uhr in der Nacht spontan Gruppen zusammen, die den Leidensweg Jesu – meist schweigend – nachgehen. „Bei diesen Prozessionen betet jeder für sich“, berichtet der Kreuzmeister. So trägt jeder still seine Anliegen nach Golgatha.
Nachdem die 17.00-Uhr-
Prozession den Kapellenberg erreicht hat, geht es durch den Wald und dann ein Stück durch die Stadt zurück zur Vincenz-Kirche. Auf dem Kirchplatz haben sich schon wieder zahlreiche Gläubige versammelt. Die Kreuzträger reichen das Kreuz an die nächsten beiden Träger weiter. Pünktlich um 18.00 Uhr setzt sich die nächste Kreuztracht in Bewegung.
Es gibt auch im 21. Jahrhundert noch Tausende Menschen, die diese einzigartige Verbindung von Glauben und Tradition aufrecht erhalten. Das Besondere dieser Kreuz-
trachten fasst die Vincenz-Gemeinde auf ihrer Internetseite mit den Worten zusammen: „Ob es regnet oder schneit, ob die Sonne scheint oder es stürmt, bei jedem Wetter: Einer reicht dem anderen das Kreuz…“
Matthias Nückel