Gott erwartet von uns Klage – Interview mit Egbert Ballhorn
Die Bilder, die einen täglich aus der Ukraine erreichen, sind schrecklich, die Nachrichten verunsichernd. Als gläubiger Mensch steht man wieder vor der Frage, warum Gott das alles zulässt. Ein Gespräch mit dem Dortmunder Exegeten Egbert Ballhorn. Mit Egbert Ballhorn sprach Claudia Auffenberg.
Herr Prof. Ballhorn, warum lässt Gott das alles zu, was wir im Augenblick erleben?
Egbert Ballhorn: (schweigt lange) „Das kann ich gar nicht sagen, weil ich Gott – in dem Sinne – nicht „kenne“. Von der Bibel her würde ich zwei Aspekte nennen, die miteinander im Widerstreit sind. Zum einen: Gott hat sich entschieden, dem Menschen Freiheit zu schenken. Die Grundidee der Erschaffung des Menschen ist, dass er frei ist, sich entscheiden zu können. Davon handeln die ersten Erzählungen in der Bibel, der Genesis. Die Freiheit zur Entscheidung ist auch die Freiheit, sich für das Böse zu entscheiden. Und das akzeptiert Gott. Das ist für mich der Teil, der zwar unser Menschsein ausmacht, den ich aber am schwersten verstehen kann: dass Gott zulässt, dass wir uns für das Böse entscheiden und Leben zerstören können. Ganz am Anfang der Bibel fängt es ja schon an: Kain erschlägt Abel.“
Abel hatte nicht die Freiheit, sich zu entscheiden. Ist die Freiheit immer aufseiten der Täter?
Egbert Ballhorn: „Der Täter nimmt dem Opfer seine Freiheit. Das ist der schreckliche Teil der Freiheit. Doch bevor Kain den Abel erschlägt, spricht Gott mit ihm und sagt: „Du bist in der Gefahr, Böses zu tun. Entscheide dich dagegen.“ So mahnt Gott, und der Mensch tut es doch. Nach der Tat zieht Gott Kain zur Rechenschaft und fragt ihn: „Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Erdboden.“ (Gen 4,10) Das klingt für mich aktuell sehr laut: Das Blut des unschuldig getöteten Opfers schreit zu Gott vom Erdboden. Wir hören nichts, aber Gott hört den Schrei.
Das macht den Anfang der Bibel aus, und im letzten Buch der Bibel heißt es: „Als das Lamm das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen aller, die hingeschlachtet worden waren wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses, das sie abgelegt hatten. Sie riefen mit lauter Stimme und sagten: Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen?“ (Offb 6,9) Diese Sätze bekommen für mich derzeit eine besondere Wucht.
Und es berührt mich, dass sowohl das erste wie auch das letzte Buch der Bibel vom Schreien des unschuldig vergossenen Blutes spricht. Diese Frage begleitet die Menschheit und wird bis zum Ende der Geschichte nicht verstummen. Das weiß die Bibel. Die Opfer behalten ihre Stimme, sie hören nicht auf zu schreien und erwarten, dass Gott sich kümmert und dass er Gerechtigkeit schafft. Und das ist für mich der zweite Aspekt: Ich glaube, dass Gott der Herr der Geschichte ist …“
Wirklich?
Egbert Ballhorn: „Ja! Sonst könnte ich an ihn nicht glauben. Aber auf welche Weise er Geschichte lenkt und zu einem Ende bringt, das weiß ich nicht – und das ist für mich teilweise schrecklich zu erleben. Trotzdem vertraue ich ihm. Aber die Spannung bleibt: Gott schenkt dem Menschen die Freiheit und ist zugleich Herr der Geschichte. Das geht nicht zusammen, aber die Bibel hält beides zusammen.“
Wenn Sie sagen, Sie vertrauen ihm: Was bedeutet das genau, wie begründen Sie Ihr Vertrauen?
Egbert Ballhorn: „Ich kann das nicht begründen. Ich hoffe darauf, dass das letzte Wort nicht der Mensch und seine zerstörerische Kraft haben, sondern, dass das letzte Wort ein Wort des Lebens ist. Dass Gott zu den Toten sagt: „Steht auf!“ Und dass ihr gewaltsam beendetes Leben bei Gott neu wird. Darauf hoffe ich und das verlange ich auch von Gott. Das muss er tun, wenn er der ist, als der er sich gezeigt hat. In der Zwischenzeit haben wir die Möglichkeit, zu fragen, zu klagen und die Gerechtigkeit von ihm einzufordern.
Das dürfen wir und das müssen wir. Wir müssen das von Gott einklagen und ihm das Leid der Opfer vor Augen halten und nicht nachgeben: Siehst du das Leid nicht? Das beschreibt den existenziellen Kampf, in dem ich mich als gläubiger Mensch befinde, in dem ich mit Gott ringe. Ich glaube, Gott erwartet von uns auch, dass wir nicht nachlassen in der Klage, im Gebet, so wie es in Psalm 13 heißt: Wie lange noch, Herr, wie lange noch?“
Es wird ja viel gebetet für den Frieden, aber so richtig wirkt das scheinbar nicht. Beten wir falsch oder zu wenig?
Egbert Ballhorn: „Wir wissen doch gar nicht, ob Gott nicht schon am Werk ist. Ob er nicht schon Dinge in Bewegung gesetzt hat, die zum Frieden führen. Gott handelt ja nicht, indem er einen Schalter umlegt und eine Wirklichkeit verschwindet. Er verändert Wirklichkeit, aber wie er das tut, das weiß ich nicht. Dennoch hoffe ich es, und ich hoffe, dass er Möglichkeiten hat, die uns verschlossen sind und die wir nicht sehen können.
Die Bibel ist ein politisches Buch, das die Stimme der Opfer hörbar macht. In diesem Jahr habe ich in der Osternacht die Erzählung von der Rettung der Israeliten am Schilfmeer ganz besonders als politischen Text gehört. Die Bibel erzählt vorher noch die Erzählungen von den Plagen. Wir haben uns ja manchmal gefragt, was sind das für eigentümliche Geschichten? Noch eine Plage und noch eine Plage, aber der Pharao lernt nicht. In diesem Jahr dachte ich: Hier wird erzählt, wie der oberste Anführer eines Volkes sich immer weiter in seiner Macht und Gewaltfantasie verhärtet und durch kein äußeres Zeichen zur Einsicht gebracht werden kann. Diese abgründige Wahrheit ist mir in diesem Jahr unter die Haut gegangen.“
Sie meinen: Der Pharao von heute sitzt in Moskau?
Egbert Ballhorn: „Für mich ist der biblische Pharao ein Beispiel für menschliche Herrscher, die meinen, nur im Modus von Gewalt, Unterdrückung und Zerstörung herrschen zu können.“
Der Herrscher in Moskau hat geistlichen Beistand von jemandem, der auch an den Gott glaubt, von dem Sie gesprochen haben.
Egbert Ballhorn: „Das verschlägt mir wirklich die Sprache! Das Christentum ist gegründet als eine Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern, die keine Grenzen kennt. Christentum und Nationalismus sind vollständig unvereinbar. Die Entgrenzung aller Nationen ist die Gründungsidee der Schöpfung und des Christentums. Obwohl die Geschichte ja immer wieder die enge Verbindung von Thron und Altar gesehen hat, sind beide im Wesen unvereinbar. Es kann eigentlich keine Nationalkirchen geben. Und das ist die Botschaft von Anfang an, von Kain und Abel: Jede Tötung eines Menschen ist Brudermord.“
Ist die Bibel da wirklich so eindeutig? Wir hatten vor zwei Wochen den Ruf „Schwerter zu Pflugscharen“ auf dem Titel. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es gibt in der Bibel auch den gegenteiligen Aufruf: Pflugscharen zu Schwerter und Winzermesser zu Lanzen. (Hinweis: Joël 4,1.9–12)
Egbert Ballhorn: „Ich meine, man muss diesen Text als gewollte Ironie lesen. Es geht um die große Entscheidung der Völker zwischen Gewalt und Friede. Wer seinen Pflug in ein Schwert umschmiedet, beraubt sich seiner Lebensgrundlage. Wenige Verse zuvor hieß es bei Joel noch: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.“ (Joël 3,5) Hier steht nicht nur das Volk Israel, hier stehen alle Völker in der Entscheidung. Es gibt also die Freiheit der Wahl: Nach welchen Gesetzen wollt ihr leben? Wem wollt ihr dienen? Die Joël-Worte leben von der Friedensvision des Jesaja, und sie machen deutlich, wie mühsam der Weg dorthin ist. „Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr, euer Gott bin.“ (Joël 4,17) Gott schafft Recht, darauf läuft es zu.
Grundsätzlich gilt die Friedensperspektive aus Jesaja: Gott schafft Gerechtigkeit und dann, so heißt es dort, „werden sie den Krieg nicht mehr lernen.“ (Jes 2,4) Krieg wird also gelernt. Der Gedanke, dass Menschen einander töten und dass jetzt junge Menschen auch in Russland zu Mördern gemacht werden, treibt mich um. Die Vision von Jesaja ist: Krieg kann verlernt werden. Das ist für mich neben dem Gebet und der Klage eine wichtige Perspektive für die Friedensarbeit. Im Moment sind wir ja ziemlich auf die Frage Waffenlieferungen fixiert. Vermutlich brauchen wir Rüstung, aber sie allein ist noch keine Friedensperspektive. Da müssen wir von christlicher Seite unsere Stimme einbringen.“
Wenn man die öffentlichen Debatten betrachtet, scheint genau das unser Problem zu sein, dass wir in Deutschland den Krieg verlernt haben.
Egbert Ballhorn: „Und im Moment haben wir das Gefühl, wir müssen wieder Krieg lernen; aber das ist nur die vorletzte Perspektive, nicht die letzte. Das ist wichtig! Zusätzlich brauchen wir eine Friedensbewegung, die schaut: Wie können wir mit den Menschen, nicht nur mit dem einen Herrscher, ins Gespräch kommen und Perspektiven entwickeln? Vor dem Krieg haben die Gespräche anscheinend nichts gebracht. Aber das heißt nicht, dass man in Zukunft darauf verzichten sollte, alles Menschenmögliche zu tun, um der Gewalt nicht das letzte Wort zu lassen. Unsere gesellschaftlichen Anstrengungen müssen darauf zielen, nicht nur gute Wirtschaftsbeziehungen zu knüpfen, sondern an einer Zivilisation des Friedens und der Gerechtigkeit zu arbeiten.“
Am kommenden Sonntag (22. Mai) hören wir im Evangelium das Wort Jesu „Meinen Frieden gebe ich euch, einen Frieden, den die Welt nicht geben kann“. Was ist das für ein Friede?
Egbert Ballhorn: „Wir erleben gerade so bitterernst, dass wir den Frieden nicht machen können. Wir können ihn nicht herstellen. Wir können daran arbeiten, wir können ihn ersehnen und erwarten, aber ein entscheidender Teil kann nur Geschenk sein. Das ist sicher Teil dieser Botschaft Jesu. Und die Geschichte der Welt ist noch nicht zu Ende, solange noch irgendeine Rechnung der Gewalt offen ist. Unsere Welt kann allein aus sich heraus nicht zur Erlösung kommen. Das dürfen oder müssen wir von Gott erwarten. Aber wir können jetzt schon versuchen, nach den Bedingungen dessen, was Jesus Reich Gottes nennt, zu leben und unser Handeln auszurichten.“
Was könnte das konkret bedeuten?
Egbert Ballhorn: „Mit Bonhoeffer würde ich sagen „Beten – und Tun des Gerechten unter den Menschen“! Ich sage ganz offen: Mir wird auch zu wenig gebetet. Ich merke selbst, dass es mühsam wird, wach und sensibel zu bleiben nach all diesen Wochen, in denen sich nichts verändert hat. Aber es im Sonntagsgottesdienst nur auf die Liste der Fürbitten zu setzen, ist mir zu routiniert. Es bedeutet auch, dass wir leidempfindlich bleiben müssen, hinschauen und hinhören, dass wir – natürlich – Geld spenden.
Ich erfahre von Menschen, die ihre Wohnungen für Flüchtlinge geöffnet haben, die sich in ihrer Freizeit um Trauernde kümmern. Es ist weiterhin unsere Aufgabe, Politiker darin zu unterstützen, auf allen Ebenen an einer Kultur der Kommunikation und des Nachdenkens und der Verantwortlichkeit mitzuarbeiten, an zivilen Gesellschaftsformen und an Konfliktlösungen mit Worten. Das gilt doch auch für jeden von uns, dass Gewalt nicht das Mittel ist, um Probleme mit dem Recht des Stärkeren zu lösen. Wir brauchen auch für Alltagsfragen eine Friedensethik. Das hängt für mich zusammen.“
Wie würden Sie denn anders beten, also weniger seelenlos?
Egbert Ballhorn: „Das ist auch eine Anfrage an mich selber. Wir leben in unseren Routinen, und anderswo ist der Lauf der Welt außer Kraft gesetzt. Das macht mich ratlos. Aber aus biblischer Perspektive kann ich sagen: Beten heißt Fürbitte und Klage im Namen derer, die keine Stimme mehr haben, weil sie tot sind oder weil es ihnen die Sprache verschlagen hat. Die Psalmen arbeiten sich an Gott und an seiner Abwesenheit ab: Jesus betet am Kreuz Psalm 22, in dem es heißt: Warum bist du so fern?“