Jesu Sehschule
Kinder haben Spaß am Entdecken. Foto: Beate-Helena/photocase
Der Glaube an Jesus weitet den Horizont für das Ganze der Wirklichkeit Gottes und des Menschen.
„Ich sehe was, was du nicht siehst.“ So ein Ratespiel für Kinder, bei dem es darum geht, das, was ein Spieler innerhalb eines Raumes in den Blick nimmt, unter Angabe der Farbe von seinen Mitspielern erraten zu lassen. Im 9. Kapitel des Evangeliums nach Johannes begegnet uns Jesus als derjenige, der mehr sieht als die um ihn Versammelten. Diese will er zum Sehen führen. Sie aber wollen nichts entdecken, sondern bei ihrem eingeschränkten Sehvermögen und ihrer verengten Sichtweise der Dinge bleiben.
Jesus sieht „einen Mann, der seit seiner Geburt blind war“, während die Jünger nur die Frage stellen, wer die Blindheit verschuldet habe. Aufgrund der Überlieferung gehen sie davon aus, dass Krankheit eine Folge von Schuld sei. Wie sich im weiteren Verlauf der Perikope herausstellt, lehnt es Jesus ganz klar ab, Schuld und Krankheit in einen Zusammenhang zu bringen. Ihm geht es darum, durch die Blindenheilung das Wirken Gottes zu zeigen.
Während der körperlich blinde Mensch durch Jesu Handeln und durch sein eigenes Mitwirken sehend wird, indem er sich im Teich Schiloach wäscht, sind die körperlich Sehenden offensichtlich unheilbar mit Blindheit geschlagen. Sie lassen sich weder von Jesu Heilungstat anrühren, der den leidenden Menschen aus seiner Not befreit, noch freuen sie sich mit dem nun Gesunden über sein unfassbares Glück.
Im Gegenteil: Sie brechen einen Streit vom Zaun und äußern Zweifel, ob es sich überhaupt um den vormals Blinden handelt. Sie führen fadenscheinige Gründe an, weshalb nicht sein kann, was nicht sein darf, und begründen dies mit der Heilung am Sabbat. Insgeheim haben sie auch für den, der Jesus als Messias bekennt, den Ausschluss aus der Gemeinde beschlossen. Die Wortgefechte und Beschimpfungen gehen hin und her, ohne zu einer Erhellung zu führen. Blind vor Wut überhäufen die Pharisäer den Geheilten mit Vorwürfen, gönnen ihm nicht einmal ein gutes Wort, geschweige denn Freude darüber, dass er endlich sehen kann.
Was Jesus noch vor Beginn des Heilungswunders angekündigt hat, nämlich das Wirken Gottes zu offenbaren, bestätigt sich mehr und mehr. Und in der Frage der Pharisäer, ob sie etwa selbst blind seien, geben sie Auskunft darüber, wie es mit ihrem Glauben steht: Sie setzen sich und ihren Horizont als Maßstab und behaupten, die richtige Welt-
anschauung zu besitzen. Ihr Glaube orientiert sich an festgeschriebenen Gesetzen und Kenntnissen. Sie bezeichnen sich als „Jünger des Mose“; man hat „noch nie gehört“, was hier passiert ist, deshalb meinen sie, im Recht zu sein. Was Jesus sieht, sehen sie nicht. Und sie lassen sich auch nicht auf ihn ein.
In einem Gedicht schreibt Lothar Zenetti: „Menschen, die aus dem Glauben leben, sehen alles in einem anderen Licht.“ Darauf käme es an für diejenigen, die sich Jesus widersetzen. Ihnen fehlt es an Einsicht und Weitsicht. Sie verweigern sich der Horizont-
erweiterung. Ihr Glaube bleibt auf der Strecke, weil sie sich dem Wirken Gottes verschließen. Sie wollen nicht sehen, was doch offenkundig ist. Jesus stellt sich als „das Licht der Welt“ vor. Aber Fanatismus und Rechthaberei verengen den Blick und lassen keine andere Möglichkeit zu, das Geschehen zu deuten. Dabei hätten die Beteiligten die Chance gehabt, Ein-Sicht zu gewinnen, wie Gott am Menschen handelt.
„Alles in einem anderen Licht“, im Licht des Gottvertrauens zu sehen, das Alltägliche, das Schwere, das Unliebsame – hier zeigt sich, wie sich mein Glaube an Jesu Sichtweise orientiert.
Sr. Ancilla Ernstberger, Augustiner Chorfrau im Michaelskloster in Paderborn