Kultur des Hinsehens
von Claudia Auffenberg
In diesen Tagen taucht im Fernsehen ein alter Bekannter auf, der vertraut und doch so ganz anders erscheint: Guido Westerwelle. Er bekämpft gerade seine Leukämie und erzählt von diesen Erfahrungen nun in einem Buch und in Talkshows. Wir hören: Schrecken, Schmerz und Tod brauchen keine islamistischen Terroristen, um in unser Leben einzudringen. Mitten im Leben sind wir im Tod umfangen. Das war so, das ist so und es wird auf dieser Welt wohl auch so bleiben. Dagegen kommen wir nicht an, dennoch muss man irgendwie damit umgehen. Auch davon erzählt Westerwelle: Bei seinen Auftritten gab es jeweils einen Moment, einen kurzen Augenblick, in denen die Rührung nach ihm griff, nämlich wenn er erzählte, wie schön es ist, wieder unter Menschen sein zu können. „Man freut sich“, sagte er bei Günther Jauch und schaute ins Publikum.
Beieinander sein, zueinanderstehen, das taten die Menschen weltweit nach den Anschlägen in Paris, wie immer nach solchen Ereignissen. Es ist kein Mittel gegen den Tod, aber es hilft, die Zeit bis dahin zu ertragen. Und wieviele Menschen gibt es, die ihr Leben nicht ertragen können, die morgens darauf warten, dass es Abend wird, die ihr Dasein als tägliche Last, als täglichen Kampf oder mindestens als Mühsal erleben. Die Einsamkeit und das Desinteresse am anderen sind in unserer Gesellschaft der digitalen Dauerkommunikation große Themen. Es könnte vielleicht eine Aufgabe für Christen sein, dem entgegenzuwirken, ganz bewusst zu initiieren, dass wir einander wahrnehmen.
In vielen pastoralen Räumen unseres Erzbistums fangen sie jetzt an, eine Pastoralvereinbarung zu schreiben. Darin werden Ziele und Schwerpunkte der Gemeinden innerhalb eines pastoralen Raums festgehalten. Dort nur hineinzuschreiben: „Wir wollen eine Kultur des Hinsehens anstiften“, ergäbe – jedenfalls vom Seitenumfang her – ein dünnes Papier, aber es wäre doch Wesentliches damit gesagt.