Liebfrauentracht – 850 Jahre Wallfahrt in Verne
Friedhelm Budde trug für einige Hundert Meter das Gnadenbild – zur Erinnerung an eine Vorfahrin aus dem 18. Jahrhundert. (Fotos: Flüter)
Nach 25 Jahren ist am vergangenen Sonntag die Große Liebfrauentracht durch die Feldflure zwischen Verne, Geseke, Salzkotten und Upsprunge gezogen. Die Zahl der Pilger war überraschend groß. Anlass war das Jubiläum „850 Jahre Wallfahrt in Verne“. Auch die Liebfrauentracht hat eine lange Geschichte.
Verne/Salzkotten/Geseke. Winnifred Zinselmeier sitzt erhitzt, aber immer noch unternehmungslustig im Pfarrzentrum an der Geseker Stadtkirche. Neben ihr steht der Rollator, mit dem sie seit heute Morgen die Große Liebfrauentracht geht. Von Verne, ihrem Heimatort, ist sie nach Salzkotten gegangen und dann über Upsprunge nach Geseke – alles mit dem Rollator. Nur bei Steigungen hat sie der Bus, der hinter den Pilgern herfährt, mitgenommen. Auch den letzten Teil der Wallfahrt von Geseke nach Verne will sie mitgehen.
Überrascht vom großen Zuspruch
Damit gehört Winnifred Zinselmeier zum harten Kern der Wallfahrer, die an der Liebfrauentracht teilnehmen. Etwa 80 sind es noch, die sich planmäßig gegen 18.30 Uhr in Geseke auf den Weg machen, 180 werden es spätabends in Verne sein, weil sich Verner der letzten Etappe angeschlossen haben. Unter ihnen ist Winnifred Zinselmeier. Morgens folgten 400 Menschen dem Prozessionszug, der an der Salzkottener Stadtgrenze von Bürgermeister Ulrich Berger in Empfang genommen wurden.
Selbst Josef Isekenmeier, der Cheforganisator der Wallfahrt, ist überrascht von dem großen Zuspruch. Vor allem die Alterszusammensetzung der Pilger beeindruckt ihn. Im Prozessionszug ziehen viele Familien mit Kindern, Jugendliche, auch geübte Wanderer mit Rucksack und Wanderschuhen mit. Die große Anzahl der Pilger und ihre bunte Mischung geben Josef Isekenmeier zu denken. „Daraus müssen wir etwas lernen“, sagt er. Bei den Gnadenbild-Prozessionen in Verne ist der Altersdurchschnitt in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Die Liebfrauentracht hat vielleicht neue Möglichkeiten gezeigt, junge und andere Zielgruppen anzusprechen.
Der Salzkottener Bürgermeister Ulrich Berger muss aus dem Prozessionszug nach vorne kommen, um in seiner Eigenschaft als Stadtoberhaupt das Gnadenbild und die Pilger in Salzkotten zu begrüßen. Er war schon beim Beginn der Wallfahrt um 5 Uhr morgens in Geseke dabei. Dieses Ereignis hat er sich nicht nehmen lassen wollen, auch wenn er nur drei Stunden geschlafen hat. Am Abend zuvor hatte er das Abitur seiner Tochter gefeiert – ebenfalls in Geseke, im Gymnasium Antonianum. Trotzdem wirkt das Salzkottener Stadtoberhaupt bei der Begrüßung der Liebfrauentracht nicht im Geringsten müde. Der viel beschäftigte Lokalpolitiker erlebt die Wallfahrt auch als Entschleunigung und Möglichkeit, „den Kopf frei zu kriegen“.
Erste Liebfrauentracht Mitte des 13. Jahrhunderts
Die erste Liebfrauentracht fand Mitte des 13. Jahrhunderts statt. Die Prozession mit dem Gnadenbild, einer vergoldeten Darstellung Marias, zog durch die Gemarkungen zwischen Verne, Salzkotten und Upsprunge – die zum Herrschaftsgebiet des Paderborner Fürstbischofs gehörten, also zum Hochstift – und Geseke, das Grenzstadt von Kurköln war. Immer wieder wurde die Liebfrauentracht verkürzt oder fiel aus, weil es Streitereien, meist aus politischen Gründen, gab.
Als sich Salzkotten nach Grenzstreitigkeiten 1837 endgültig aus dem gemeinsamen Projekt zurückzog, bedeutete dies das – vorläufige – Ende. Seitdem beschränkten sich die Prozessionen auf den Ort Verne. Nur 1969 und 1997 feierte die Liebfrauentracht eine Wiederbelebung und nach einem Vierteljahrhundert wieder in diesem Jahr. Dafür gibt es einen besonderen Anlass. Verne feiert 850 Jahre Wallfahrt. Nachdem die geplante Jubiläumsfeier 2021 wegen der Pandemie verlegt werden musste, konnte auch die Liebfrauentracht jetzt mit einem Jahr Verzögerung endlich stattfinden.
Einer, der die Geschichte genau kennt, ist Friedhelm Budde. Der Lokalhistoriker hat sich intensiv mit der Vergangenheit der Liebfrauentracht auseinandergesetzt. Nach Geseke übernimmt es der Rentner, als einer von zwei ständig wechselnden Trägern, einige Hundert Meter weit das Gnadenbild auf den Schultern zu transportieren. Das hat er versprochen. Dort, wo er die Last wieder abgibt, am „Bildstock von der Not der Wallfahrerin“, hat im 18. Jahrhundert eine seiner Vorfahrinnen während der Liebfrauentracht eine Notgeburt erlitten. Das Kind überlebte und machte später in Geseke Karriere, die Mutter starb acht Wochen später.
Besondere Charakter der Prozession
Budde kann auch erklären, warum die Liebfrauentracht über lange Strecken zwischen den Dörfern und Städten nur von Getreidefeldern, Wiesen und Äckern begleitet wird. Weil es sich jahrhundertelang um eine Grenzregion handelte, zogen die Bauern in die befestigten Orte. Die Landschaft dazwischen blieb weitgehend ohne Hofstellen. Das prägt die Gemarkungen bis heute.
Das macht auch den besonderen Charakter der Prozession aus. Mit den Fahnen und Messdienern am Anfang, den Blaskapellen der jeweiligen Orte, den singenden und betenden Pilgern und den blinkenden Versorgungs- und Rettungswagen des DRK am Ende ziehen die Wallfahrer über lange Strecken allein durch eine stille Landschaft, ab und zu begleitet von Prozessionsfahnen am Wegrand.
Die hoch über allem thronende Marienfigur im vergoldeten, in der Sonne blitzenden Gnadenbild, blickt weit über die gelb werdenden Getreidefelder, über weite Mais- und Kartoffeläcker, die gut gedeihen. So muss es auch vor Jahrhunderten gewesen sein, wenn die Bauern, die um ihre Abhängigkeit vom Wetter wussten, kurz vor der Ernte Gott um Beistand baten, damit die Scheunen voll wurden.
Unterwegs mit dem Besenwagen
Wie es sich für einen Sommertag gehört, ist es auch in diesem Jahr heiß. Vor allem die Stunden am frühen Nachmittag, als die Liebfrauentracht zwischen Upsprunge und Geseke unterwegs ist, liegt die Sonne drückend auf den Pilgern. Notfälle gibt es dennoch nicht, wie das DRK mitteilt. Wer nicht mehr kann, kann im Bus zurückfahren oder im „Besenwagen“ eine Strecke überbrücken.
Aber Winnifred Zinselmeier zieht mit ihrem Rollator unbeirrt voran. Die weit über Verne hinaus bekannte Musikpädagogin und tätige Katholikin hat ein Versprechen geleistet. Vor 25 Jahren, als die letzte Liebfrauentracht übers Land zog, hatte ihr Mann einen schweren Infarkt erlitten. Die Ärzte hatten ihm keine lange Lebenszeit mehr gegeben. In diesem Jahr, ein Vierteljahrhundert später, hat das Ehepaar diamantene Hochzeit gefeiert. Sie habe ihrem Mann morgens beim Aufbruch gesagt, sie gehe für ihn, sagt sie, und dafür, dass ihnen beiden die letzten 25 Jahre vergönnt waren.
Es wird nicht das einzige Anliegen gewesen sein, das die Pilger der Liebfrauentracht mit sich trugen. Er habe von Anfang an gemerkt, wie wichtig den Veranstaltern in Verne die Wallfahrt gewesen sei, sagt der Verner Pastor Werner Beule. Dieser Wille, den Glauben auf die eigene Art, mit einer seit vielen Jahrhunderten verankerten Tradition, zu leben, war das entscheidende Motiv, sagt auch Josef Isekenmeier, der mit einem Organisationsteam einige anstrengende Wochen hinter sich hat. „Wir dürfen nicht hinter dicken Mauern bleiben, müssen heraus aus den Kirchen“, sagt Inge Heinz, Pfarrgemeinderätin, die in Geseke die Organisation leitet.
„Heute hat einfach alles gepasst“
„Das, was heute passiert ist, macht uns Hoffnung für die Zukunft“, sagt Josef Isekenmeier. Etwa 180 Pilger bringen das Gnadenbild um 21.30 Uhr zurück in die Verner Kirche. Als sie nach der Schlussandacht vor die Kirche treten, regnet es – nach einem strahlend schönen Sommertag. Josef Isekenmeier kann auch dieses Wetterglück nicht mehr überraschen: „Heute hat einfach alles gepasst.“
Karl-Martin Flüter