Missbrauch durch Kleriker – Betroffene suchen oft Schuld bei sich
Liudger Gottschlich (61) empfing 1987 die Priesterweihe und hat als Seelsorger in Bielefeld, Bergkamen, Benhausen, Elkeringhausen, Paderborn und Dortmund gewirkt. (Foto: Patrick Kleibold)
Pastor Liudger Gottschlich hat die Seelsorge für Menschen übernommen, die Missbrauch durch einen Kleriker oder Beschäftigten im kirchlichen Dienst des Erzbistums Paderborn erleiden mussten. Im Interview mit dem Dom spricht er über seine Aufgaben und Herausforderungen. Mit Liudger Gottschlich sprachen Patrick Kleibold und Claudia Auffenberg.
Herr Gottschlich, wie sind Sie zu dieser Aufgabe gekommen?
Liudger Gottschlich: „Zum einen sind die Betroffenen an das Bistum herangetreten und haben erklärt, einige von ihnen bräuchten mehr als Geldzahlungen. Es gibt eben doch eine ganze Reihe unter ihnen, die trotz allem Kontakt zur Kirche und einen Platz in ihr haben wollen und erwarten, dass die Kirche etwas mehr für sie tut. Etwa zur gleichen Zeit habe ich meinen eigenen Missbrauchsfall sowohl bei der Interventionsstelle als auch gegenüber der Historikerkommission offen gemacht und gesagt, mein Name könne genannt werden.
Ich habe die Hoffnung, dass sich dadurch noch mehr ermutigt fühlen, sich zu melden, denn ich bin sicher, dass ich damals in meinem Umfeld nicht der einzige Betroffene war. So wurde ich von Bischof und Generalvikar ins Bischofshaus eingeladen. Dort haben sie mir diese Aufgabe angeboten. Ich arbeite seit über 30 Jahren in der geistlichen Begleitung, habe viele Fortbildungen gemacht, etwa in Pastoralpsychologie, und habe zwischen 2003 bis 2010 auch mit Betroffenen gearbeitet. Die beiden erinnerten sich an einen Priester, der mal Alkoholiker war und danach viele alkoholkranke Mitbrüder begleitet hat.“
Und wie läuft es an?
Liudger Gottschlich: „Ich habe zwei Tageszeitungen Interviews gegeben und das hat einige Anfragen ausgelöst – von Betroffenen, aber auch von Personen, die sich dem Bistum bislang noch nicht vorgestellt haben, darunter zwei Kollegen von mir. Manchmal gibt die Interventionsstelle meine Adresse weiter, wenn die Mitarbeitenden dort den Eindruck haben, ein solch seelsorgliches Gespräch in einem absolut geschützten Raum sei hilfreich. Es haben sich sogar Menschen aus Nachbarbistümern gemeldet, wo es bislang ein solches Angebot nicht gibt.“
Missbrauchsbetroffene sind häufig traumatisiert, können über Jahrzehnte nicht über den Missbrauch sprechen. Sie selbst haben das erlebt. Was ist das für ein Trauma?
Liudger Gottschlich: „Ein Missbrauch hat immer mit Macht zu tun: Wo hat jemand Macht über Menschen, die vielleicht schüchtern sind oder von zu Hause unter Druck stehen – wie bei mir. Viele Betroffene suchen danach die Schuld bei sich und denken: „Ich habe das ausgelöst!“ Das ist seitens der Täter oft auch ein perfides Spiel. Sie bedrohen die Betroffenen massiv, sagen, es passiere etwas Schlimmes, wenn sie darüber reden. Daher vergraben die Betroffenen den Missbrauch ganz tief in sich.
Ein anderer Grund für das Trauma ist, dass Menschen während der Tat gewissermaßen aus dem eigenen Körper aussteigen und so das Gefühl „produzieren“: Das hat mit mir gar nichts zu tun, das bin nicht ich. Auch das wird dann total verdrängt. Wenn jemand einmal eine sogenannte Traumazange erlebt hat, also eine absolut bedrohliche Situation, aus der sie nicht fliehen konnten und in der sie sich nicht wehren konnten, der kann später retraumatisiert werden, etwa durch eine Person, die dem Täter ähnlich ist. Das kann Starre, Angst, sogar Panik auslösen.“
Können Sie das an einem eigenen Beispiel erläutern?
Liudger Gottschlich: „Ja, ich hatte jahrelang völlig irrationale Ängste vor kirchlichen Vorgesetzten, die ich mir selbst nicht erklären konnte. Einmal bekam ich einen Brief aus Paderborn, dessen Inhalt ich kannte, aber trotzdem bekam ich totale Panik, dass ich rausgeworfen werde. Solche Gefühle habe ich auch vor einem Gespräch mit dem Generalvikar gehabt, obwohl es keinen Grund zur Panik gab. Trotzdem konnte ich nicht mehr atmen, hatte Schweißausbrüche, bin die Treppe nicht hochgekommen. Woher kamen diese Ängste? Ich bin von einem Priester missbraucht worden, der groß und mächtig war, der alles mit mir machen konnte. Das habe ich unbewusst auf jeden Mächtigen in der kirchlichen Hierarchie übertragen.“
Den Menschen, die zu Ihnen kommen, ist Ähnliches passiert und treten jetzt wieder einem Priester gegenüber. Ist das eine gute Idee, dass Sie als Priester solche Gespräche führen?
Liudger Gottschlich: „Es gibt natürlich Menschen, die das nicht möchten. Deswegen sind wir gerade dabei, eine Frau für die Seelsorge zu gewinnen, zumal manche sowieso lieber zu einer Frau gehen. Andere suchen aber sehr bewusst den Priester, weil sie ein großes Vertrauen in geistliche Leitung oder die Sakramente haben. Was ich nie tue und schon lange nicht mehr getan habe, in Priesterkleidung dazusitzen. Auch meine Diensträume sind relativ neutral, da riecht es nicht nach Kirche. Wer zu mir kommt, hat also nicht den Eindruck, eine kirchliche Schwelle überwinden zu müssen.“
Was ist Ihr Angebot: Seelsorge, Traumatherapie oder beides?
Liudger Gottschlich: „Wenn ich das gleichsetzen würde, hätte ich meinen Beruf verfehlt! Ich bin kein Therapeut. Für manche Leute ist es ganz wichtig, dass ich nur zuhöre. Das Erzählen ist oft schon heilsam. Andere suchen tatsächlich einen neuen Zugang zu Gott, weil das Missbrauchsgeschehen und die ganzen Vertuschungen wie ein Balken zwischen ihnen und Gott liegt. Sie sagen: Es muss doch für mich trotz Kirche Gott geben. Wie komme ich zu ihm? Da bin ich als geistlicher Begleiter gefragt: Welche Formen von Gebet oder Meditation gibt es, wie kann ich mit der Bibel umgehen, um wieder in eine erlebbare Gottesbeziehung zu kommen? Denn dazu brauche ich die Institution Kirche nicht.
Wenn dann in einer solchen Begleitung der Missbrauchsfall hochkommt, werde ich daran nie traumatherapeutisch arbeiten. Ich kann durch Meditation oder Arbeit mit der Bibel die Heilung geistlich unterstützen, allerdings nur, wenn parallel eine Traumatherapie stattfindet. Anders als in einer Therapie bin in der geistlichen Begleitung nicht ich das Gegenüber, sondern Gott. Ich steh daneben und verhelfe dazu, das heilende Wirken Gottes zu spüren. Geistliche Begleiter, die versuchen, therapeutisch zu arbeiten, haben ihren Beruf nicht verstanden. Das gibt es manchmal, aber das ist eine Katastrophe, denn das ist wieder Missbrauch, Machtmissbrauch oder geistlicher Missbrauch.“
Aber wie kann man sich das mit der Meditation vorstellen?
Liudger Gottschlich: „Es gibt drei Formen: über den Kopf, das Gefühl oder den Instinkt. Man muss jeweils herausfinden, was meine Form ist. Eine Meditation für den Kopf ist die benediktinische Methode, die „lectio divina“. Ich lese einen Bibelvers immer wieder, kaue ihn gewissermaßen, wiederhole ihn im Rhythmus meines Atems und dann setzen sich Gedankenketten frei. Für Menschen, die mehr über Emotionen gehen, gibt es die ignatianische Methode: Man stellt sich die biblischen Geschichten als Film vor und spielt selbst eine Rolle darin. Und schließlich gibt es die Methode der Kontemplation, bei der jemand versucht, über den Atem ruhig zu werden und loszuwerden, was in ihm ist. Unsere spirituelle Tradition hat sehr viele Möglichkeiten zu bieten, meine Aufgabe ist es dabei zu helfen, den für sich richtigen Weg zu finden.“
Wie schützen Sie sich davor, Ihre Macht zu missbrauchen?
Liudger Gottschlich: „Auf verschiedene Weise. Das erste, sehr probate Mittel: Selbstprüfung. Ich stelle mir vor, der Mensch vor mir geht und sagt, es reiche ihm. Wie würde ich reagieren? Wäre ich beleidigt, hätte ich das Gefühl, oh nein, der kann nicht gehen, der ist ja noch gar nicht fertig? Wenn das so wäre, wäre schon etwas schiefgelaufen. Dann hätte ich uns schon in eine Abhängigkeit zueinander gebracht. Das zweite ist: Supervision. Drittens ein geistlicher Begleiter hat möglichst selbst einen geistlichen Begleiter. Und fachliche Beratung ist auch hilfreich. Ich habe also für mich selbst eine engmaschige Kontrolle.“
Kontrolliert Sie jemand von außen, berichten Sie an wen oder führen Sie Protokolle?
Liudger Gottschlich: „Im Leben nicht! Die Gespräche mit mir sind absolut, komplett vertraulich. Es wird nichts aufgezeichnet, protokolliert oder weitergegeben.“
Und wie funktioniert die Zusammenarbeit mit dem Team Intervention um Thomas Wendland?
Liudger Gottschlich: „Die ist rein äußerlich, aber nicht inhaltlich. Das Team informiert Menschen, die sich bei ihnen melden, über mein Angebot. Mir ist wichtig zu betonen: Die Seelsorge ist nicht das einzige weiterführende Angebot des Erzbistums. Die Interventionsstelle vermittelt an Therapeuten und kümmert sich auch um Leute, die ihre Probleme mit Kirche haben. Die Interventionsstelle kümmert sich auch darum, wenn ich etwas organisieren möchte, ein Wochenende etwa. Und, das ist mir wichtig, über die Stelle habe ich einen unmittelbaren Zugang zur Bistumsleitung und kann so ein direktes Gespräch mit Bischof oder Generalvikar bekommen. Das hatte ich mir ausbedungen.“
Worüber reden Sie mit denen?
Liudger Gottschlich: „Nicht über konkrete Inhalte, die bleiben immer im absolut geschützten Bereich, sondern etwa, wenn ich den Eindruck habe, dass im Erzbistum etwas schiefläuft, etwa im Umgang mit Betroffenen. Mir war auch wichtig, dass ich kein Feigenblatt für die Bistumsleitung bin. Als selbst Betroffener trete ich – wenn nötig auch laut und unbequem – für die Belange der Betroffenen ein.“
Warum sind Sie als selbst Betroffener überhaupt in den Dienst der Kirche eingetreten?
Liudger Gottschlich: „Mich hat ja nicht die Kirche missbraucht, sondern ein einzelner Mann. In meiner Kindheit war Kirche für mich die eigentliche Heimat, die Rettung vor einem katastrophalen Elternhaus. Kirche war der Ort, an dem ich sicher war. Ich wurde gebraucht, konnte etwas Sinnvolles tun. In „Lumen gentium“ der dogmatischen Konstitution über die Kirche des Zweiten Vatikanums steht, die Kirche habe analog zu Jesus, in dem eine menschliche und eine göttliche Natur ist, auch zwei Seiten: die göttliche, unsichtbare und die sehr weltliche, sichtbare. Die weltliche ist die Institution, die es braucht, um die 1,3 Milliarden Katholiken weltweit zusammenzuhalten.
Die andere ist die göttliche Seite, der Bereich, wo ich Gott begegnen kann, in den Sakramenten, im Gebet, in der Schrift, im gemeinsamen Feiern, in der Caritas. Im Idealfall, so heißt es in dem Text, soll sich die weltliche Seite von der geistlichen Seite „füttern“ lassen. Aber die weltliche Seite besteht immer aus Sündern und ist immer zu reformieren, immer! Ich habe mich immer schon in dieser geistlichen Seite von Kirche festgemacht. Als Gemeindepfarrer habe ich mich nie gesehen. Ich bin nie ein Institutionsmensch gewesen, im Gegenteil. Ich unterscheide sehr zwischen der Institution und dem geistlichen Bereich, in dem ich lebe.“
Aber medial schaut man auf den weltlichen Teil der Kirche, von dem Sie auch ein Teil sind. Was denken Sie darüber, dass die Kirche die Aufarbeitung bislang allein zu bewältigen glaubt?
Liudger Gottschlich: „Das ist einer der Punkte, den ich massiv kritisiere. Die Bischöfe reden ständig von irgendwelchen Lernkurven, die sie machen, aber es ändert sich nichts. Bischof Bode etwa bekennt, dass er Fehler gemacht habe, aber zurücktreten will er nicht, weil er meint, dass dann die Aufklärung nicht weiterginge. Er hat nichts verstanden. Die Bischöfe halten sich für derart unersetzlich und glauben, dass es nur mit ihnen richtig weitergehen kann. Aber es geht nicht weiter. Die Mechanismen, wo Macht missbraucht werden kann, wo man sich mit seiner Sexualität nicht auseinandersetzen muss, bleiben unangetastet. Wir haben es ja bei der Abstimmung beim Synodalen Weg erlebt. Wirklich etwas passieren wird erst, wenn wie in Irland oder in Australien staatliche Kommissionen das Ruder ergreifen würden. Das halte ich für dringend notwendig. Anders wird es nicht gehen. Ich glaube nicht, dass diese Institution sich sonst reformieren kann.“
Müssten Sie dann nicht konsequent aus der Kirche austreten?
Liudger Gottschlich: „Warum?“
Weil Sie diese Institution vertreten, die Sie so kritisieren. Weil sie Sie bezahlt. Weil Sie Gehorsam versprochen haben …
Liudger Gottschlich: „Nein, den würde ich ihm verweigern. Wenn ein Bischof von mir etwas verlangte, was ich nicht für sinnvoll halte, würde ich gehen. Bezahlt werde ich nicht dafür, dass ich tue, was der Bischof will, sondern für das, was ich mit diesen verletzten Menschen tue. Dafür, dass sie umsonst kommen können und ich nicht von solchen Gesprächen leben muss. Die weltliche und die geistliche Seite der Kirche sind trotz allem so eng miteinander verbunden, dass ich sie für mich nicht so trennen kann, dass ich nur in einem Bereich leben könnte. Den geistlichen Bereich gibt es nicht ohne die Institution, die Institution nicht ohne geistliche Seite. Will ich das eine, habe ich immer auch das andere. Daher trete ich nicht aus. Außerdem gibt es so viele Menschen, die Gott suchen. Für die möchte ich weiter Priester sein, ihnen Sakramente spenden – dessen würde ich mich berauben.“
Können Sie im Hochgebet noch guten Gewissens für den Papst und die Bischöfe beten?
Liudger Gottschlich: „Ja, weil ich finde, dass sie es sehr nötig haben – wie jeder.“
Zur Person
Liudger Gottschlich (61) empfing 1987 die Priesterweihe und hat als Seelsorger in Bielefeld, Bergkamen, Benhausen, Elkeringhausen, Paderborn und Dortmund gewirkt. Er absolvierte Ausbildungen im Bereich Geistliche Begleitung, Spiritualität, Exerzitien, Persönlichkeitsentwicklung und heilsame Meditation.
Kontakt: Liudger Gottschlich,
E-Mail: l.gottschlich@email.de;
Tel.: 01 76 50 36 31 32
Weitere Ansprechpartner für Missbrauchsbetroffene
Dr. des. Christine Hartig, Universität Paderborn,
E-Mail: christine.hartig@uni-paderborn.de;
Tel.: 0 52 51/60-44 32
Thomas Wendland, Interventionsbeauftragter,
E-Mail: thomas.wendland@erzbistum-paderborn.de;
Tel.: 0 52 51/1 25-17 01