Mit dem Herzen lernen
Auch ist mein Leben eine einzige Bewegung zum Vater. Und an diesem Ende steht dann hoffentlich Freude – pure Freude.Foto: emanoo/photocase
Was der Verstand nicht begreifen kann, vermag das Herz zu ergründen.
von Sebastian Schulz
Ein Hirt sucht sein Schaf. Eine Witwe dreht ihren Haushalt auf links, um ein Geldstück wiederzufinden. Ein Vater nimmt seinen verloren geglaubten Sohn in die Arme. – Diese Geschichten kennen wir aus den Evangelien. Und jedes Mal, wenn das Verlorengeglaubte wiedergefunden wird, herrscht pure Freude.
Das heutige Evangelium erzählt uns, wie der zwölfjährige Jesus verloren gegangen ist. Dass er fehlt, bemerkten Maria und Josef erst auf dem Rückweg vom Paschafest. Sie sind voller Sorge und der Verzweiflung nahe. Zurück in Jerusalem suchen sie ihn in der übervollen Stadt. Als sie Jesus im Tempel wiederfinden, ist er bereits drei Tage von ihnen getrennt. Im Gegensatz zu seinen Eltern ist Jesus völlig entspannt: Er sitzt da, hört konzentriert zu, ist fasziniert und wissbegierig und stellt Fragen, die die Zuhörenden staunen lassen.
Vorwurfsvoll stellt Maria ihn zur Rede. Jesus antwortet nur: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ Am Ende dieser Suchaktion heißt es über Maria und Josef: „Doch sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte.“ Von der Freude des Wiederfindens ist keine Rede.
Maria versucht, das Geschehene nicht zu verdrängen. Sie kehrt es nicht unter den Teppich. Sie bewahrt das Geschehene in ihrem Herzen. Ähnlich ging sie mit dem Geschehen rund um Jesu Geburt um: Auch da bewahrte sie das Geschehene in ihrem Herzen …
Im Englischen gibt es den Ausdruck „learning by heart“. „Auswendig lernen“ ist damit gemeint. Übersetzt man es wörtlich, heißt es: „mit dem Herzen lernen“. Das klingt wie eine Lebensweisheit. – Maria scheint diese Weisheit zu beherzigen. Sie lernt mit dem Herzen. Im Leben hilft ihr das, um mit dem Unbegreiflichen, um mit Schwerem umzugehen.
Gut zwanzig Jahre nach dem Wiederfinden Jesu im Tempel wird sie verstehen: Jesus war in diesen drei Tagen nicht verloren gegangen. Auch nach den drei Tagen nach seinem Tod am Kreuz war Jesus nicht verloren gegangen. Beide Male ist er „nicht einfach fort“, sondern da, wo er hingehört: beim Vater. Dieser Weg zum Vater hat sein ganzes Leben bestimmt. Bei diesem Vater ist er gut aufgehoben. – Erst da kann Maria sich von Herzen freuen.
Für mich ist diese Lebensweisheit Marias eine „Learning-by-heart-Strategie“. Wie Maria könnte auch ich versuchen, das, was ich einfach nicht verstehen kann, wo ich mich frage: Was soll das, Gott?, nicht einfach zu verdrängen. Ich könnte versuchen, es im Herzen zu bewahren und so fürs Leben zu lernen. Am Ende möchte ich sagen können: Auch ist mein Leben eine einzige Bewegung zum Vater. Und an diesem Ende steht dann hoffentlich Freude – pure Freude …
Zum Atuor:
Pastor Sebastian Schulz ist Diözesanpräses des Kolpingwerkes DV Paderborn und seelsorglicher Mitarbeiter im Pastoralen Raum „An Egge und Lippe“.