Neustart auf dem Jakobsweg
Ein Bild aus besseren Tagen: Pilger vor dem Anstieg auf den Berg Mostelares in Kastilien-León. Fotos: Andreas Drouve
von Andreas Drouve
Mit der Wiedereröffnung ihrer Herberge Ende Juni gehörten sie an der berühmtesten Pilgerstrecke der Welt zu den Vorreitern. Über den Zulauf in nächster Zeit verfällt Iñaki Garralda nicht in Träumerei, doch Hauptsache, es geht wieder etwas. Erste Zeichen hatten die Wiederankünfte von Pilgern in der zweiten Juniwoche am Ziel in Santiago de Compostela gesetzt, obgleich es nur Spanier auf Kurzstrecken durch die dortige Region Galicien waren. Immerhin, der Anfang war gemacht. Seit Anfang Juli hat das Pilgerbüro in Santiago de Compostela wieder geöffnet, an einem Tag wie dem 7.Juli wurden laut Information der dortigen Webseite 155 Pilgerankünfte registriert. Das ist für diese Jahreszeit, nämlich die zulaufstärkste Saison, nicht sensationell, aber angesichts der Corona-Umstände auch nicht zu verachten. Künftig wird der internationale Betrieb stärker ins Rollen kommen. Traditionelle Anlaufstellen aller Wallfahrer sind die Herbergen, darunter auch die von den Jakobusfreunden Paderborn geführte Pilgerherberge „Haus Paderborn“ („Casa Paderborn“) in Pamplona. Wann man sich dort wieder betten kann, steht allerdings in den Sternen.
Hier ein Lagebericht zu den beliebten Pilgerquartieren und zu dem, was Pilger in Zukunft erwartet. Das Fazit vorweg: Manches wird nicht mehr so sein wie vorher. Zumindest vorerst.
Bücher weg und Masken auf
„Jetzt muss ich erst mal Strom und Gas wieder anmelden“, hatte Javier Rodríguez Mitte Juni gesagt. Die Neueröffnung der Pilgerherberge „Plaza Catedral“, die er mit zwei Kompagnons am Domplatz von Pamplona betreibt, hat er aktuell aber vom 1.auf den 21. Juli verschoben. Gründe: der vergleichsweise spärliche Pilgerstrom und die diffusen Richtlinien der Stadt- und Regionalverwaltung, wo es an Abstimmungen und klaren Vorgaben mangelt. Wie viele seiner 45 Schlafplätze er bereitstellen darf, weiß er immer noch nicht. Obwohl er hofft „alle“, steht zu befürchten, dass er die Kapazitäten reduzieren muss. Offizielle Vorgaben hat Rodríguez trotz diverser Bemühungen noch nicht erhalten. Dagegen kam es schon zu einer skurrilen Konstellation: „Die Tourismusbehörde hier aus Navarra hat mich kontaktiert und angefragt, wann wir zu welchen Bedingungen wieder öffnen – aber das müssten die mir doch mitteilen.“ Verkehrte Welt.
Unter Herbergswirten herrscht über die Vorfreude hinaus allerorten Verwirrung, Ungewissheit. Trennwände aus Plexiglas hat Rodríguez nicht geordert, zumal die Preise dafür in astronomische Höhen geschossen sind. Dafür hat er Absperrbänder gekauft, „solche, die man sonst bei Verbrechen benutzt“. Denn die Aufenthaltsbereiche der Herbergen dürfen vorläufig nicht oder nur begrenzt zugänglich sein. Zudem müssen ausgelegte Broschüren, Bücher und Spiele bis zur Wiedereröffnung verschwinden. Auch die Küchen, mit denen manche Herbergen ausstaffiert sind, dürfen nicht oder nur eingeschränkt in Eigenregie benutzt werden– das weiß aber niemand so genau. Und wie der vorgegebene Mindestabstand zwischen den Leuten– „derzeit eineinhalb Meter“, so Rodríguez– in der Praxis eingehalten werden soll, ist ein Rätsel. Denn in Herbergen spielt sich erfahrungsgemäß alles auf engstem Raum ab. Gerade hier herrscht der wahre Geist der Pilgerbewegung. Die Quartiere sind nicht nur Rastpunkte, wo man Komfortverzicht übt und automatisch geerdet wird, indem man den eigenen Schlafsack auf der Pritsche ausbreitet und die Sanitäranlagen teilt. Jede Herberge ist eine Begegnungsstätte, eine Nachrichtenbörse, ein Mikrokosmos. Wer nach eines langen Tages Marsch oder Radfahrt hier eintrifft, landet in einer Oase– und wird sich künftig eine Schutzmaske aufsetzen müssen, ebenso wie die Wirtsleute.
Mehrarbeit und Mehrausgaben
Die Betreiber der Herbergen erwarten Mehrarbeit und Mehrausgaben, die an die Belastungsgrenze gehen. Iñaki Garralda muss Ankömmlingen Tüten aushändigen, damit die Pilger sofort ihre Wanderstiefel und das Gepäck darin verstauen. Das darf man als zweifelhafte Hygiene erachten, typisch für die realitätsferne Erfindung an Politiker- und Beamtenschreibtischen. Denn die Schuhe dampfen quasi noch, der Rucksack ist durchtränkt von Schweiß. Packt man all das in Plastik, zieht das eine unvergleichliche Aura nach sich. Kollege Rodríguez hat sich eigens einen Dampfstrahler angeschafft, mit dem er hofft auszukommen.
Überall in den Herbergen müssen Desinfektionsmittelspender stehen. Und „nach jedem Duschgang“, so Garralda, müsse er dort eine Desinfektion vornehmen. Stört ihn das? Das gehöre dann halt zum Job, weicht der 51-Jährige diplomatisch aus, „wir achten sowieso penibel auf Sauberkeit, das spiegelt sich in den guten Bewertungen im Internet wider“.
Pluspunkte in der Herberge der Brüder Garralda sind patentierte Kapselbetten, die sich zum Gang hin per Store verschließen lassen und für intime Abschottung sorgen. Allerdings dürfen wegen der Abstands- und Hygieneregeln vorläufig nur zehn von zwanzig Betten belegt werden. Iñaki Garralda hofft, dass die abwaschbaren, antibakteriellen Kissenüberzüge und Bettunterlagen bei möglichen Behördenkontrollen reichen. Denn die Bestimmungen sind uneinheitlich. Kollegen aus anderen Regionen müssen – entgegen aller Gedanken um Ökologie – Wegwerf-Laken und Einmal-Kissenhüllen benutzen. So ist es bei Enrique Valentín, der am Jakobsweg durch die Region La Rioja im Dorf Ventosa die Herberge „San Saturnino“ betreibt. Zudem ist er Vorsitzender der Vereinigung privater Pilgerherbergen am Jakobsweg.
Ziehen die Mehrausgaben Preiserhöhungen nach sich? Valentín erhöht ganz leicht von elf auf zwölf Euro. In Pamplona bleiben die Preise in der „Casa Ibarrola“ (18 Euro) und in der Herberge „Plaza Catedral“ (15–18 Euro) gleich. Was nicht gleich bleibt: das Frühstück, das in beiden letztgenannten Quartieren bislang als Büfett bereitstand. Alles muss nun individuell auf den Tisch kommen. Garralda sieht in der Portionierung sogar einen Vorteil bei den Ausgaben, denn sonst hat er bei Selbstbedienungspilgern oft dies beobachtet: „Zwei Muffins isst man, sechs steckt man als Proviant in die Tasche.“
Prognosen zum Verlauf
Wie wird das restliche Pilgerjahr verlaufen, das verheißungsvoll begonnen hatte und durch Corona Mitte März jäh zum Stillstand kam? „Ruhig“, fürchtet Iñaki Garralda, „die Entwicklung wird wellenförmig sein.“ Obgleich er 2020 wirtschaftlich bereits jetzt für „komplett verloren“ hält, hofft er zumindest auf den gewöhnlich starken Pilgermonat September und auch das kommende Jahr. Dann steht nach 2004 und 2010 wieder ein heiliges Jakobusjahr an, was besonders viele Menschen zum Aufbruch auf den Jakobsweg animiert. In der Herberge „Plaza Catedral“ sind für August und September bereits Reservierungen eingegangen. Vielleicht könne man aus dem Oktober „noch etwas herausholen“, so Wirt Rodríguez, um vor allem die Großzügigkeit des Hausbesitzers zu danken. Denn der hat ihnen von Beginn des Alarmzustandes an die Monatsmiete von annähernd 3000 Euro erlassen. Wäre das nicht so gewesen, so Rodríguez, „hätten wir unser Geschäft aufgeben müssen“.
„Haus Paderborn“– Stand der Dinge
Prinzipiell müssen sich Pilger darauf einstellen, vor manch verschlossenem Tor zu stehen. Wirt Rodríguez kennt Beispiele von Herbergen, die erst im August öffnen. Oder in diesem Jahr gar nicht mehr. „Es sind bisher zwar alles Gerüchte, aber darunter dürften viele öffentliche Herbergen sein“, sagt Rodríguez und meint jene, die von Städten, Gemeinden und Kirchen unterhalten werden. Dort ist man auf die Einnahmen nicht so angewiesen wie in den teureren Privatherbergen.
Ob und wann das von Freiwilligenteams betreute „Haus Paderborn“ in Pamplona wieder öffnet, ist ungewiss. Ebenerdig sind die grünen Fensterläden noch immer verschlossen, im ersten Stock fallen die Strahlen der Nachmittagssonne auf zwei Stockbetten. Und an der Tür haftet in einer Sichthülle unverändert ein antiquiertes Blatt, das besagt, die Herberge bleibe wegen Corona „bis zum 30.März“ geschlossen. Seit Monaten war niemand mehr da.
„Der Freundeskreis der Jakobuspilger Paderborn hat bisher die Saison nicht völlig abgesagt“, bekräftigt der Vereinsvorsitzende Heino von Groote auf Anfrage. Man stehe bereit, „wenn die Situation, d.h. die Pilgerzahlen es erforderlich scheinen lässt und die Umstände es zulassen“. Dafür, umreißt von Groote, habe man grundsätzlich eine Vorlaufzeit von drei Monaten geplant, könne aber „wahrscheinlich auch schneller reagieren“. Es sei denkbar, „im August, September oder Oktober wieder für die Pilger da zu sein“. Organisatorisch sei man mit einem Hygienekonzept und technisch mit Desinfektionsmitteln und Desinfektionsmittelspendern gut gerüstet. Trotzdem wolle man das Risiko „möglichst gering“ halten, für die ehrenamtlichen Helfer wie für die Ankömmlinge. Deshalb heißt es vorläufig noch: abwarten und die Lage neu beurteilen. „Schließlich sollen die Pilger bei uns auch sicher sein“, so von Groote.