Nour: in Frieden aufwachsen
Die Stunden in der Schule sind für Nour die schönste Zeit ihres eintönigen Alltags im Flüchtlingslager. Fotos: Dietmann/Kindermissionswerk
Als eine Bombe ihr Haus im syrischen Idlib traf, floh Nour mit ihrer Familie in den Libanon. Das Leben im Flüchtlingslager ist nicht einfach, doch im Projekt des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes finden Nour und ihre Geschwister ein Stück Normalität.
von Susanne Dietmann
Konzentriert sitzt Nour* auf dem Zeltboden und zeichnet mit dem Bleistift ein Gesicht auf ein Blatt Papier. „Das bin ich“, sagt die Sechsjährige leise. Eine Solarlampe spendet ihr ein wenig Licht, der Ofen in der Raummitte etwas Wärme an diesem kalten Januartag. Mit ihren Eltern und fünf Geschwistern lebt Nour in einem Zelt aus Plastikplanen, Holz und Pappe in einer Flüchtlingssiedlung in der libanesischen Bekaa-Ebene. Nour hat die Eingangstür des Zeltes mit einer Zeichnung verziert: ein Gesicht mit einem Herz als Mund– auch das ist ein Selbstporträt, verrät sie schüchtern. Ihre Heimat Syrien, wo noch immer Krieg und Verfolgung den Alltag der Menschen bestimmen, ist nur wenige Kilometer entfernt. Und doch weit weg, denn seit ihrer Flucht vor fünf Jahren war die Familie nicht mehr dort.
„Ich vermisse meine Oma.“
„Hier ist es schön, aber ich vermisse meine Oma“, sagt Nour. Die lebt nämlich noch in Syrien. „Wir fühlen uns hier sicher“, sagt Nours Mutter Riham und drückt die kleine Fatme an sich. „Sicherheit bedeutet Frieden, und ich will, dass meine Kinder in Frieden aufwachsen können.“ Nours jüngere Geschwister wurden alle im Libanon geboren, und auch Nour kann sich kaum an die syrische Heimat erinnern. Sie war ein Jahr alt, als eine Bombe das Haus der Familie in Idlib zerstörte. Glücklicherweise kam niemand aus ihrer Familie zu Schaden. Doch ihnen blieb nichts, nur die Kleidung, die sie am Körper trugen. Da entschieden sich die Eltern zur Flucht. Erst per Bus, dann zu Fuß flohen sie über die Grenze in den Libanon.
Kriegstraumata
„Wir hatten früher Schweine, Schafe, Hühner und Hunde. Die Kinder konnten draußen spielen“, erzählt die Mutter. „Und ich hatte Arbeit“, ergänzt Vater Ahmed, der als Fotograf den Familienunterhalt bestritt. Heute verdient er als Tagelöhner auf dem Bau oder auf dem Feld gelegentlich etwas Geld, doch oft wird er am Ende des Tages nicht bezahlt. Sein elfjähriger Sohn muss mitarbeiten, damit die Familie über die Runden kommt. Nour und ihre Schwestern verbringen die meiste Zeit in dem engen, dunklen Zelt. „Draußen ist es zu gefährlich“, sagt die Mutter. Erst kürzlich habe es einen Streit gegeben, bei dem zwei Männer in der Nachbarschaft mit dem Messer aufeinander losgegangen seien.
Die schönste Abwechslung vom eintönigen Alltag sind die Stunden im Zentrum des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, das Nour und drei ihrer Geschwister täglich besuchen. Hier können sie lernen und spielen, einige Stunden unbeschwert sein. Jeden Vormittag machen sich die Kinder mit ihren Schulrucksäcken auf in die wenige Hundert Meter entfernte Al-Telyani-Schule. 630 Jungen und Mädchen zwischen 5 und 14 Jahren erleben hier ein wenig schulische Normalität. In zwei Schichten werden sie unterrichtet: vormittags die jüngeren Kinder, nachmittags die älteren.
„Es ist Zeit zu lernen.“ „Du bist wichtig.“ „Jemand hört dir zu.“ Diese und andere positive Botschaften sind auf bunten Zetteln überall an den Wänden der Schule zu sehen– verziert mit bunten Blumen, Schmetterlingen oder Friedenstauben. Dabei erfahren die Flüchtlingskinder auch, dass Schutz und Geborgenheit, ein Aufwachsen in Frieden und ein sicheres Zuhause wichtige Kinderrechte sind. Viele der Kinder lernen erst hier, was Frieden bedeutet. Sie haben den Krieg in ihrer Heimat erlebt und sind gezeichnet von der Flucht. Um die Kriegstraumata zu verarbeiten, werden Nour und ihre Mitschüler auch psychologisch begleitet. Neben Unterricht und Therapie bleibt genügend Zeit zum Spielen, Basteln und Malen– Nours große Leidenschaft. Aber auch der Unterricht macht ihr großen Spaß, und Arabisch ist ihr Lieblingsfach. Später möchte Nour selbst gerne Lehrerin werden, um anderen Kindern Lesen und Schreiben beizubringen.
So helfen die Sternsinger
Rund eine Million syrische Flüchtlinge leben im Libanon, etwa ein Drittel von ihnen in der Bekaa-Ebene. In Flüchtlingslagern wohnen die Familien unter prekären Bedingungen, oft ohne Strom und fließend Wasser. Die meisten Eltern haben kein Einkommen. Sie können ihre Kinder weder ausreichend ernähren noch den Schulbesuch ermöglichen. Hier hilft der Jesuiten-Flüchtlingsdienst, ein langjähriger Partner der Sternsinger. In der Bekaa-Ebene hat er drei Zentren eröffnet, mit Unterricht und Freizeitangeboten für Flüchtlingskinder wie Nour. Die Mitarbeiter bereiten die Jungen und Mädchen auf den Unterricht an einer libanesischen Schule vor und geben ihnen ein Stück Normalität und Stabilität zurück. Täglich bekommen die Kinder in den Zentren eine warme Mahlzeit. In den kalten Wintermonaten erhalten sie warme Kleidung. Sozialarbeiter und Psychologen kümmern sich um traumatisierte Kinder und beziehen die Familien mit ein.
* Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes haben wir die Namen aller Flüchtlinge geändert.