Tod und Trauer – „Schmerz ist Ausdruck meiner Liebe“

Schwester Theresita Maria ist studierte Musikerin, im Himmel möchte sie Komponisten kennenlernen. (Foto: Patrick Kleibold)

Der Tod – ein Thema, das alle beschäftigt. Wie kann man weiterleben ohne diese eine Person, die einem so unfassbar viel bedeutet? Gibt es Wege aus Schmerz und Trauer? Schwester Theresita M. Müller hat zu diesem Thema das Buch mit dem Titel „Wenn alles stillsteht – Wege aus Schmerz und Trauer“ geschrieben. Mit Sr. Theresita Maria sprachen Claudia Auffenberg und Helena Mälck.

Schwester Theresita Maria, wie finden Sie den November?

Es ist mein Geburtstagsmonat. Daher mag ich ihn, weil ich froh und dankbar bin, dass ich lebe und Gott mich geschaffen hat. Und ich stamme aus dem Rheinland, dort begann in unserer Familie mit St. Martin die Voradventszeit. Das haben wir bewusst begangen. Von daher hat der November für mich zwar etwas Dunkles, aber nicht unbedingt im negativen Sinne, sondern eher geheimnisvoll.

Andere mögen ihn wegen der vielen Totengedenktage nicht. Finden Sie es hilfreich, von außen – also per Kalender – mit dem Thema konfrontiert zu werden?

Beim Karneval gibt es auch Stimmen, die sagen, man könne nicht auf Knopfdruck lustig sein, aber solche Zeiten helfen, den Alltag zu unterbrechen und sich einmal über alles Mögliche lustig zu machen. So ist es auch im November. Sterben ist schrecklich, vielleicht nicht so sehr für die Gestorbenen, aber ganz sicher für die Hinterbliebenen, besonders wenn junge Menschen sterben, die eine Familie mit kleinen Kindern oder einen jungen Partner zurücklassen. Doch aus der Sicht Gottes ist es vielleicht anders. Am vorletzten Sonntag lautete der letzte Satz des Evangeliums: „Denn für ihn leben sie alle.“ Ich stelle mir vor, dass Gott zwei Welten sieht: die Welt, in der wir leben, und die, in der alle anderen leben. Aus seiner Sicht ist es vielleicht egal, wo man lebt, Hauptsache, man lebt irgendwo.

Dieser Gedanke weckt in mir eine große Neugier: Wie wird es mal sein? Ich lebe gern und genieße mein Leben. Ich führe auch in meinem Orden ein fröhliches Leben, aber sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen, dazu helfen solche Gedenktage.

Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

Weil ich das Thema wichtig ­finde und ich mit vielen Menschen in Berührung bin, die jemanden verloren haben. Denen möchte ich Mut machen, weiter am Leben teilzuhaben. Für sie ist das Leben nicht zu Ende. Menschen, die jemanden verloren haben, brauchen etwas, an das sie sich halten können, Erfahrungen von anderen, denen es ähnlich ergangen ist. Deswegen hatte ich Lust, ein Buch der Gefährtenschaft zu schreiben. Ich habe viele Interviews mit Trauernden geführt, die mir erzählt haben, wie sie mit der Situation umgegangen sind. Das kann für andere vielleicht eine Hilfe sein. 

Inwiefern?

Zu hören, wie andere es ­geschafft haben, sich nicht aus dem ­Leben zu katapultieren, was sie ­konkret gemacht haben, das kann ­eine Anregung sein, es ­einmal selbst ­auszuprobieren. Und es hilft zu wissen, dass es anderen auch schlecht geht. ­Eine ­Freundin erzählte mir, sie ­habe sich in der Trauerzeit ­ernste ­Filme ­angeschaut, das ­habe ihr ­geholfen: „Ich bin nicht die ­Einzige, die gerade ­leidet.“ Das hat ihr Mut gemacht.

Wo begegnen Sie Trauernden?

Im Kloster kommt man automatisch mit vielen Menschen in Kontakt, die zu uns kommen. Manche erzählen uns dann davon. In Köln habe ich die Trauer­begleitung für Kinder kennengelernt, in Bergisch-­Gladbach das Beerdigungsinstitut Pütz-­Roth. Ich kenne viele Personen, die einen geliebten Menschen verloren haben, durch sie haben sich viele weitere Kontakte ergeben. Das ist wie ein Schneeballsystem. Und natürlich habe ich auch schon Verluste erlebt und musste damit umgehen: ein guter Freund, meine Eltern, mein 20-­jähriger Neffe … Hier im Kloster sterben immer wieder Schwestern. Der Tod gehört also zu meinem Leben, er läuft gewissermaßen im Hintergrund ständig mit. 

Wie begegnen Sie den Trauernden: neutral, gefasst oder weinen Sie auch mal mit?

Ich bin jetzt nicht der Typ, der schnell weint, aber natürlich bin ich oft sehr berührt und sage es dann auch. In Köln bei der Trauer­begleitung für Kinder hängt in dem großen Raum, in dem die Kinder sich treffen, ein großes Brett mit Fotos der verstorbenen Mamas und Papas oder Geschwisterchen. Alles junge Leute! Das hat mich sehr erschüttert. Da habe ich gedacht: Verflixt, warum müssen diese Menschen sterben? Dort gibt es auch ein Bällchenbad, wie ich es eigentlich nur aus dem Kindergarten kenne. Der Leiter erzählte mir, dass Kinder und Jugendliche in dieses Bällchenbad gehen und sich mit den Bällchen ganz bedecken, um zu fühlen, wie es ist, begraben zu sein. Sie haben bei der Beerdigung gesehen, dass auf ihrer Mutter oder ihrem Vater viel Erde liegt und wollen das nachempfinden. Dass die Kinder ein solches Schicksal erlebt haben und diese Erfahrung suchen, das berührt mich tief.

Und wie erleben Sie die erwachsenen Trauernden?

Ganz unterschiedlich. Manche, bei denen es noch nicht so lange her ist, müssen viel weinen, was auch okay ist. Andere, bei denen der Tod/Verlust lange zurückliegt, haben ihn akzeptiert und können inzwischen damit leben. Sehr berührt hat mich das Interview mit der Sängerin Véronique Elling, deren Sohn ermordet worden ist. Sie hat mir gesagt, sie lasse das Liebesband zu ihrem Sohn nicht durch ihre Wut oder ihren Hass beschmutzen. Ihre Trauer hat sie in vielen Liedern und durch die auch nach dem Tod gebliebene lebendige Beziehung zu ihrem Sohn verarbeitet. Das hat mich positiv beeindruckt und ich denke, davon zu hören, kann auch eine Hilfe für Trauernde sein.

Trauer ist eine der Urerfahrungen des Menschen, warum brauchen wir dazu Hilfe, warum können wir es nicht?

Ich würde nicht sagen, dass wir es nicht können. Der Tote fehlt uns einfach sehr und die Lebenden bleiben mit einer Riesenlücke zurück. Es geht ein Teil der eigenen Identität verloren, der auf einmal fehlt. Und das tut unendlich weh. Es gibt ja auch andere Verlusterfahrungen: Menschen trauern nach einer Amputation um das verlorene Körperteil, Flüchtlinge trauern um ihre Heimat, die sie verloren haben. Mit Verlust können wir Menschen einfach schlecht umgehen, weil er so weh tut. 

Aber es gibt doch eine jahrtausendealte Erfahrung damit.

Trotzdem tut es dem Einzelnen sehr weh! Die Ratgeber, die vielen Bücher, auch mein Buch, wollen eine Hilfe sein, damit dieser Schmerz einen nicht völlig kaputtmacht. Man kann lernen, mit dem Schmerz zu leben. Aber so lange wir Menschen sind, haben wir Gefühle wie Freude und Schmerz – Gott sei Dank, sonst wären wir Automaten. Wenn ich Schmerz empfinde, heißt es auch, dass ich jemanden geliebt habe. Der Schmerz ist Ausdruck meiner Liebe. Wenn jemand stirbt, den ich nicht gekannt habe, tut mir das nicht weh.

Trauern Sie als Ordensschwestern anders als wir beide?

Als Sie beide sicher nicht. Aber ich glaube schon, dass Menschen, die an ein Weiterleben nach dem Tod glauben, anders trauern als die, die dies nicht tun. So schreibt es ja Paulus auch. Eine Frau erzählte mir für das Buch, sie sei überzeugt, dass es ihrer verstorbenen Tochter jetzt richtig gut gehe und sie oben mit ihrem Cousin, der durch einen Autounfall ums Leben kam, den Himmel unsicher mache. Das finde ich eine tolle Aussage: Der Tod der Tochter tut natürlich weh, aber die Mutter weiß, dass sie jetzt woanders ist und es ihr gut geht. Diese Hoffnung ist ein großer Trost. Sie ermöglicht, den Verstorbenen noch zu spüren, Kontakt zu ihm zu halten. Wenn ich aber glaube, dass der Mensch ausgelöscht ist und es ihn nicht mehr gibt, tut der Verlust vielleicht noch mehr weh.

Paulus schreibt: Trauert nicht wie die anderen, die keine Hoffnung haben. Das heißt aber nicht, dass Christen nicht trauern dürfen, oder?

Um Gottes willen nein! Er schreibt ja nicht: Trauert nicht! Sondern: Trauert nicht so wie die anderen. Trauern kann man auch niemandem verbieten. Jemanden zu verlieren ist eine der schwersten Erfahrungen, die man durchmachen muss. Aber die Trauer kann trotzdem eine Hoffnung erhalten, übrigens auch für Sterbende.

Unser Orden hat eine Jugendsozialeinrichtung in Berlin-­Marzahn, wo viele Menschen nie mit dem Christentum in Berührung gekommen sind. Einmal hatten sie einen jungen Mann, der sterbenskrank war. Als es auf sein Ende zuging und er ins Krankenhaus sollte, hat er meine Mitschwester gebeten: „Gib mir einen Brief für deinen Gott mit. Der kennt mich ja nicht.“ Und sie hat ihm einen Brief mitgegeben: „Gott, gut dass du da bist“ – so werden die jungen Leute der Einrichtung begrüßt, „hier ist Benny, du kennst ihn ja“. Mit diesem Brief in der Hand ist er drei Wochen später gestorben, meine Mitschwester war dabei. Irgendwie hatte der junge Mann offenbar doch eine Ahnung: Vielleicht ist da doch noch was.

„Die keine Hoffnung haben“, schreibt Paulus. Da muss man also fragen, ob es solche Menschen überhaupt gibt oder ob sich – wie bei Benny – im entscheidenden Moment doch noch ein Spalt öffnet, durch den die Hoffnung hereinschlüpft.

Das ist meine Erfahrung. So gut wie alle Weltanschauungen und Religionen kennen ja ein Weiterleben nach dem Tod. Diese Ahnung von Transzendenz gibt Hoffnung. Die allermeisten Menschen brauchen das, diese Idee: Vielleicht gibt es noch etwas, vielleicht ist es doch nicht für immer zu Ende. Diese Vorstellung kann dem Tod ein wenig den Schrecken nehmen.

Worauf hoffen Sie?

Ich bin davon überzeugt, dass ich in meinem Tod bei Gott ankomme, dass ich ihm begegne, dass er mich liebevoll anschaut. In diesem Anschauen werde ich mir aller meiner Fehler und Schwächen bewusst, die ich dann bereue und beweine und die durch den liebenden Blick Gottes sozusagen wegbrennen. Und dann hoffe ich, dass ich bei ihm in Freude und Glück und Zufriedenheit lebe mit all denen, die ich wiedersehen werde und ganz vielen, die ich noch kennenlernen will: Komponisten, Heilige, Menschen, die mich interessieren. Ich stelle es mir ungeheuer spannend vor. Augustinus hat einmal gesagt: „In der Gottesstadt werden wir uns an Gott und an­einander freuen.“ Eine wunderschöne Aussage: nicht nur ich und der liebe Gott, sondern ein Zusammensein in Liebe und Freude. Das stelle ich mir klasse vor.

Und worauf gründen Sie diese Hoffnung?

Gott hat es uns versprochen. Jesus hat gesagt: Ich gehe und bereite euch eine Wohnung vor, dann komme ich wieder, um euch zu holen. Die Idee vom Leben bei Gott hat sich im Judentum schon vor Jesus entwickelt. Später sagt Paulus, unser ganzer Glaube wäre nichtig, wenn Jesus nicht auferstanden wäre und uns den Zugang zu Gott geöffnet hätte. Davon bin ich ganz fest überzeugt. Und es gibt eben die Erfahrung, dass Menschen ihre Toten verstorbenen Lieben noch spüren. Ich bitte manchmal auch meine Mutter um Hilfe. Es ist möglich, noch mit ihnen in Beziehung zu sein. Also, ich bin überzeugt, dass es Gott gibt und für ihn wäre es sinnlos, uns in die Leere fallen zu lassen.

Info

Trauer gehört zum Leben wie Verluste und Abschiede. Sie ist ein normaler und notwendiger Prozess, denn sie hilft, Abschied zu nehmen von dem, was wir verloren haben. Jeder Mensch geht einen Weg der Trauer, wenn er eine geliebte Person verliert oder etwas, an dem er mit ganzem Herzen hängt. Und jede und jeder hat das Recht und die Notwendigkeit zu trauern – wie sie oder er es braucht und so lange, wie es nötig ist.

Schwester Theresita bestärkt Trauernde, ihren eigenen Weg der Trauer zu finden und zu gehen. Die dazu entwickelte Charta zeigt Trauernden klar und liebevoll das Recht auf Trauer und einen individuellen Umgang damit. Zu den von ihr erläuterten Rechten und Thesen lässt sie Menschen zu Wort kommen, die selbst den schweren Weg der Trauer gegangen sind oder noch gehen und die Leser*innen so begleiten. Ein stärkendes Buch für schwierige Zeiten.

»Trauer hilft, langsam zu akzeptieren, dass der geliebte Mensch nicht mehr bei uns ist. Sie hilft, ihm einen neuen, anderen Platz in unserem Leben zu geben.«
Sr. Theresita M. Müller

Gebunden, 144 Seiten, 20×12.5 cm
ISBN 978-3-89710-935-3
Erschienen am 12.10.2022
Hier erhältlich

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