Von dem, der getragen wurde und Rettung erfuhr
In diesem Jahr ist die Menschheit besonders in Not. Doch wer kann sie retten – wir selbst, wir allein? Der christliche Glaube sagt etwas anderes. Im Advent stellen uns Theologinnen und Theologen fünf biblische Beispiele vor.
Zu Beginn des Markusevangeliums wimmelt es geradezu von Heilungsgeschichten. Eine in den ersten Zeilen des zweiten Kapitels ist besonders spektakulär und für Kinder faszinierend. Vier Freunde tragen einen Gelähmten auf das Dach eines überfüllten Hauses, in dem Jesus gerade redet. Sie graben das Dach auf oder schlagen es auf, je nach Übersetzung, und lassen ihn herunter. Mutet das nicht merkwürdig an? „Nein“, könnte spontan die Antwort lauten, denn wie sonst soll ein gelähmter Mensch zu Jesus gelangen und das angesichts der vielen Menschen, die sich vor dem Haus angesammelt haben und den Weg versperren?
Eine maximale Umständlichkeit
Bei einem genaueren Blick in den Text mag diese Aktion aber vielleicht doch irritieren, wenn es in Mk 2,4 umständlich heißt: Weil sie ihn aber wegen der Menge nicht zu ihm bringen konnten, deckten sie dort, wo er war, das Dach ab und gruben es auf und ließen die Tragbahre, auf der der Gelähmte lag, hinab. Markus erzählt, dass die vier den Kranken nicht nur durch die Menge, sondern sogar auf das Dach befördern müssen, um schließlich dasselbe nicht nur abzudecken, sondern auch noch aufzugraben – eine maximale Umständlichkeit, die doch eigentlich nicht notwendig wäre! Wäre es nicht wesentlich einfacher, die Menschenmenge um Platz zu bitten und den Gelähmten durch sie hindurch in das Haus zu tragen?
Die Umständlichkeit des Erzählten lässt folgende Rückschlüsse zu:
- Würden die vier nicht die Möglichkeit sehen, dass Jesus den Gelähmten heilen kann, würden sie nicht den Versuch wagen, zu Jesus zu gelangen.
- Sie handeln nicht für sich, sondern für einen anderen. Dass sie solche Mühen auf sich nehmen, lässt sich auf ihren Glauben an das Heilswirken Jesu zugunsten des Kranken zurückführen. Jesus erkennt ihren Glauben und wendet sich dem Gelähmten zu, über dessen Glauben nichts gesagt wird. Ihm sagt Jesus: Kind, deine Sünden werden dir vergeben! (Mk 2,5)
Zuspruch der Sündenvergebung
Mit dem Zuspruch der Sündenvergebung erweist sich Jesus als von Gott bevollmächtigter „Menschensohn“ (Mk 2,10). In seinem Wirken wird die Herrschaft Gottes in dieser Welt anfanghaft sichtbar – etwa, indem er Menschen heilt und damit einen Ausblick auf die kommende Heilszeit gibt. Der Menschensohn hat eine rettende Funktion. So ist auch der Zuspruch an den Gelähmten zu verstehen, wenn Jesus ihn anschließend auffordert: Steh auf, nimm deine Tragbahre und geh in dein Haus! (Mk 2,11) und der Mensch – geheilt – genau dies tut. Er steht auf, nimmt seine Tragbahre und geht (Mk 2,12).
Auch wenn in Mk 2,1–12 von Rettung nicht explizit die Rede ist, schwingt diese Vorstellung in Jesu Wort vom Menschensohn mit und wird im Griechischen über den Begriff so¯zein transportiert, den Markus an anderen Stellen in seinem Evangelium nutzt (vgl. Mk 3,4; 5,23.34). In seiner Wiedergabe im Deutschen trägt so¯zein die Bedeutungen heilen, gesund machen, retten. Im Markusevangelium steht es immer im Sinne von „Leben erhalten / bewahren / retten“ aus der Todesgefahr oder angesichts des drohenden Endgerichts.
Eine Todesgefahr liegt für den Gelähmten schwerlich vor. Mit der Heilung durch Jesus wird er aber aus seiner Isolation herausgeholt, die die Krankheit verursacht hat, und zu einem Leben geführt, das der Heilsverheißung in Jes 35,5–6a entspricht: Dann werden die Augen der Blinden aufgetan / und die Ohren der Tauben werden geöffnet. 6 Dann springt der Lahme wie ein Hirsch (EÜ 2016). Das Wirken Jesu ist ein Heilswirken, das nicht nur einen Ausblick auf die von ihm verkündete kommende Heilszeit gibt, sondern ihn schon mit in diese Zeit hineinnimmt, wenn er dem Kranken die Sündenvergebung durch Gott zuspricht.
So etwas haben wir noch nie gesehen (Mk 2,12).
Entscheidende Voraussetzung dieses Heilswirkens Jesu an dem gelähmten Menschen ist jedoch die Aktion der vier Bahrenträger, deren Einsatz für den Kranken ihren Glauben und dessen Tragweite offenlegt. So stehen Glaube und Heil bzw. Rettung in Mk 2,1–12 in einem engen, wechselseitigen Zusammenhang. Die einzig angemessene Reaktion der umstehenden Menge auf dieses Wunderwirken ist, Gott zu preisen: So etwas haben wir noch nie gesehen (Mk 2,12).
In der Wundererzählung, die zunächst Staunen auslösen und dann eine Reaktion bei den Hörenden auslösen will, werden die Bahrenträger zum Vorbild und rufen uns als Hörende auf, diesem Vorbild zu folgen. Dabei gilt es, im Vertrauen auf ein uns zukommendes endzeitliches Heil aus dem Glauben zu handeln und nicht bloß auf uns zu schauen, sondern stets auch auf den anderen, damit wir die Tragbahre für diejenigen tragen, die der Fürsprache und Fürsorge bedürfen.