Von Wahrnehmungen und Vorurteilen
Eine Frage der Perspektive: Wie schaue ich hin, was sehe ich? Ein Kreuz oder Architektur? Foto: pixabay
Je enger Menschen zusammengehören, umso größer können ihre „Vor-urteile“ sein.
von Thomas Witt
Wie stark doch unser Wahrnehmen von „Vor-entscheidungen“ und „Vor-urteilen“ abhängt! Da können Menschen genau das Gleiche erleben, sehen und beobachten – und ziehen doch ganz unterschiedliche Schlüsse daraus.
So kann man es im heutigen Evangelium beobachten. Die Menschen hören Jesu Botschaft und sehen seine Zeichen. Und sie anerkennen in ihren Fragen, dass er eine erstaunliche Weisheit zeigt und sie bestätigen auch seine Wunder. Nichts davon wird infrage gestellt – wie das die Kritiker heutiger Tage wohl tun würden. Aber es gelingt ihnen nicht, dadurch einen Zugang zu Jesus zu finden. Und das Problem scheint zu sein: Sie kennen ihn zu gut.
„Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns?“ Er ist doch einer von uns. Wir kennen ihn von klein auf. Er ist doch mit unseren Kindern zusammen aufgewachsen und es war nichts Besonderes an ihm. Woher hat er das alles?
An dieser Stelle fällt eine Entscheidung. Die gehörte Weisheit und die erlebten Wunder werden gegen die Frage der Herkunft aufgewogen. Und dann siegt schließlich der Grundsatz, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Er, einer von ihnen, kann sich doch nicht so herausheben; er kann sich doch nicht so sehr entwickeln, dass er alle anderen irgendwie hinter sich lässt. Und so nehmen sie an ihm Anstoß.
Es hätte auch anders sein können. Wenn sie etwas weniger auf sich und ihre „Vor-urteile“ und „Vor-entscheidungen“ fixiert gewesen wären, dann hätten sie sich an den Fähigkeiten von einem von den ihren freuen können. Sie hätten stolz darauf sein können, dass er es so weit gebracht hat. Aber dafür sind sie zu kleinmütig.
Und hier scheint eine menschliche Konstante angesprochen zu sein; denn Jesus fasst diese Erfahrung der Ablehnung mit einer allgemeinen Einschätzung zusammen: „Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie.“
Der Erfolg bei Menschen, die uns nahestehen und mit denen wir uns auf einer Stufe sehen, ist oft schwer zu akzeptieren. Denken wir nur an die alttestamentliche Geschichte von Josef und seinen Brüdern. Sie neiden ihm die Liebe des Vaters und seine Visionen und verkaufen ihn deshalb nach Ägypten. Erst viel später wird deutlich, wie viel Segen auf der Begabung des Bruders liegt, der sie alle vor dem Hungertod rettet.
Aber es ist auch schwer, das Besondere in Menschen anzuerkennen, die man schon als Kind kannte. Da scheint alles so alltäglich und normal, dass die besondere Begabung als gefährlich unnormal erscheint. Wie viel Glaube war da bei Maria nötig, die Jesus gewickelt hat …!
Es wird aber auch deutlich: Keine Weisheit und kein Wunder kann die Bereitschaft zum Glauben ersetzen. Alle Zeitgenossen Jesu konnten Zeugen der Wunder werden und nicht einmal seine Gegner bestreiten sie. Aber sie wollen nicht glauben. Und so werden die Wunder nur zum Anlass, den Beschluss zu fassen, Jesus zu töten.
Für die aber, die Jesus mit offenen Herzen begegnen, werden die Wunder zur Bestätigung und Bestärkung ihres Glaubens. Und das ist gut so. Jesus will die Menschen nicht zum Glauben zwingen. Für alle, die dazu bereit sind, gibt er genügend Hinweise, die den Glauben bestärken. Aber er „überwältigt“ niemanden gegen dessen Willen.
Auch dieses Evangelium fordert uns zur Freiheit heraus. Wir können uns verschließen und „Anstoß an ihm nehmen“. Wir können aber auch in Freiheit „Ja“ sagen zu Jesus, dem Sohn Gottes, und so das Leben finden.
Zum Autor:
Dr. Thomas Witt ist Domkapitular und Vorsitzender des Caritasverbandes im Erzbistum Paderborn.