Vorfreude auf eine „historische Stunde“
Domkapellmeister Thomas Berning
Paderborn. Mit der Aufführung von Beethovens „Missa Solemnis“ am kommenden Freitag, 20. November, um 19.30 Uhr im Hohen Dom steht für die Paderborner Dommusik ein ganz besonderes Ereignis an. Die Leitung hat Domkapellmeister Thomas Berning. Der DOM sprach mit ihm über das Werk, die Probenarbeit und die Frage, was die Zuhörer erwartet.
DOM: Beethoven hat seine „Missa Solemnis“ einmal als sein gelungenstes Werk bezeichnet, und sie gilt nicht unbedingt als „leichte Kost“ – wie geht man mit so einer Herausforderung um?
Thomas Berning: Beethovens Aussage, sie sei sein gelungenstes Werk, muss man vielleicht ein wenig relativieren: Er war in späterer Zeit auch ein erfolgreicher Vermarkter seines Schaffens.
Dass es ihm aber unabhängig davon ein Herzenswerk war, ist an vielen Details abzulesen. Allein die lange Entstehungsgeschichte ist ein Indiz dafür: Es war geplant als Messe für die Inthronisierung von Erzherzog Rudolph zum Erzbischof von Olmütz im März 1820. Das wäre als Auftragswerk für den Komponisten kein Problem gewesen. Doch Beethoven hat irgendwann festgestellt, dass er mit dieser Aufgabe nicht so einfach fertig wird und hat noch zwei Jahre daran weitergeschrieben. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass er mit dieser Messe mehr als nur ein liturgisches Stück schaffen wollte. Er wollte seinen persönlichen Glauben, seine Auseinandersetzung mit dem Leben hineinbringen. Insofern handelt es sich wohl um eines seiner persönlichsten und ehrlichsten Werke.
So gesehen ist das sicherlich eine große Herausforderung: Eines der bedeutendsten Werke der Musikgeschichte mit einem zeitlichen Rahmen von eineinhalb Stunden anzugehen.
Wie haben Sie sich persönlich dem Werk genähert? Wissen Sie noch, wann es Ihnen zum ersten Mal begegnet ist?
Die Missa Solemnis ist ein Stück, über das viel geredet wird, von dem ich aber behaupte, dass es die wenigsten Menschen überhaupt kennen. Das ist so ähnlich wie bei Gothes Faust II: Man weiß, dass es das Werk gibt, aber gelesen hat es kaum jemand. Ich habe mich irgendwann während meines Studiums gezwungen, das Werk einmal zu hören, weil ich dachte, als Kirchenmusiker müsse man es einfach kennen. Zweimal habe ich es mir angehört, es dann aber für Jahre liegengelassen, weil ich keinen näheren Zugang fand.
Wieder näher damit befasst habe ich mich vor einiger Zeit, als mir die Idee kam, die Missa Solemnis aufzuführen. Dabei ist mir aufgegangen, wie kraftvoll, aber auch sperrig dieses Werk an vielen Stellen ist; wie viel es zu sagen hat. Schließlich kam der Wunsch des Erzbischofs dazu, dieses Werk im Dom zu hören. Das war letztlich das Startzeichen.
Wie geht man an ein solches Werk mit Blick auf die Aufführung heran?
Man nimmt zuerst einmal die Partitur zur Hand und befasst sich mit der Sekundärliteratur – auch vor dem Hintergrund, was der Komponist zur Entstehungszeit der Missa Solemnis noch geschrieben hat oder was ihn sonst beschäftigt hat. Dieses Umfeld ist wichtig, aber im Mittelpunkt steht natürlich die Partitur selbst – was singt der Chor, was spielt das Orchester, was sind die inneren Ideen des Stücks?
Welche Rolle spielen bereits bestehende Interpretationen und Aufnahmen?
In der frühen Begegnung hört man sich natürlich viel an, man vergleicht zum Beispiel ältere Aufnahmen mit neueren. Dabei stellt man sich die Frage, ob eine Aufnahme vom Stil her der eigenen Idee nahekommt. Wenn man sich dann aber dann richtig in die Partitur einarbeitet, sind diese Aufnahmen nicht mehr so interessant. Bei echten Detailfragen kann sich das noch einmal ändern: Wenn man Glück hat, findet man zum Beispiel eine Video-Aufnahme, die zeigt, wie ein großer Dirigent eine besonders schwierige Stelle technisch löst. Das kann dann sehr interessant und lehrreich sein.
Lehrreich im Sinne einer Anregung, seine eigene Interpretation zu finden?
Es gibt ja Fragen der Interpretation und rein technische Anforderungen. Zum Beispiel bei einem Übergang von einem Tempo in ein anderes. Das ist für einen Dirigenten eine schwierige Aufgabe: Man muss es hinbekommen, dass Orchester und Chor – ein großer Apparat von über 100 Mitwirkenden – zeitgleich das neue Tempo exakt anschlägt. Das ist eine technische Angelegenheit, für die es bei großen Dirigenten manchmal interessante Lösungen zu sehen gibt. In Sachen Interpretation bekommt man ganz unterschiedliche Anregungen: Sei es, dass man vielleicht als Chorsänger ein Stück schon gesungen hat oder dass man aus einer Aufführung, die man gehört hat, etwas mitnimmt. Im Laufe der Zeit, wenn man sich ein selbst Stück erarbeitet, merkt man aber auch, dass man dabei seine eigene Interpretation entwickelt, die sich von der Aufnahme, an der man sich vielleicht orientiert hat, entfernt hat. Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass man auf dem Weg ist, sich das Werk selbst anzueignen.
Sollten sich die Zuhörer auch in das Stück „einhören“?
Das habe ich mich auch schon gefragt – denn es ist wirklich schwer! Ich habe kein Werk so lange studieren müssen, bis es sich mir wirklich erschlossen hat. Es ist sicher schön, wenn man in etwa weiß, was einen erwartet und einige Schlüsselstellen wie die großen Fugen am Ende von Gloria und Credo oder die eindringliche Friedensbitte im Agnus Dei kennt. Aber ich glaube nicht, dass eine besonders intensive Beschäftigung für den Zuhörer unbedingt notwendig ist.
Hat grundsätzlich beides seine Berechtigung – die intensive Vorbereitung wie der Überraschungseffekt des Neuen?
Das ist sicher so, denn beides hat seinen Reiz, und letztlich gibt es kein Patentrezept. Für mich ist das Urteil desjenigen, der völlig unbefangen an ein Stück herangegangen ist, manchmal aufschlussreicher als das eines „Experten“. Wer unbefangen herangeht, wird unter Umständen auch viel eher und direkter ergriffen.
Es wirken ja Profis und Laien mit – wie bekommt man die unterschiedlichen Ansprüche unter einen Hut?
Die Domkantorei und die Männer des Domchores haben große Erfahrung – auch was die Zusammenarbeit mit Orchestern betrifft. Beide Seiten wissen, wie die andere Seite an ein Stück herangeht: Dass etwa die Profis mit ihren Kräften sehr gut haushalten können, weil sie genau zwischen Probe und Aufführung unterscheiden. Diesen kurzen Weg der Profis muss man mit der langsameren Herangehensweise der Laien zusammenbringen. Für manch einen Sänger ist das bei der ersten Orchesterprobe etwas unbefriedigend, weil man sich selbst mit soviel Einsatz und Liebe über ein halbes Jahr vorbereitet hat, und das Orchester dann sichtlich ohne große Emotionen an diese Probe herangeht. Das muss man verstehen, denn die Profi-Musiker haben beispielsweise mittags eine Probe mit uns und abends ein Konzert mit völlig anderer Musik. Deshalb können sie sich nicht bei jeder Gelegenheit verausgaben. Aber beim Konzert gehen sie dann mit voller Emotionalität daran!
Wie strukturiert man die Chorproben, damit alle Mitglieder über einen so langen Zeitraum motiviert sind?
Ich vergleiche das gern mit einem Puzzle-Spiel: Wenn Sie ein Tausend-Teile-Puzzle vor sich haben und haben kein Erfolgserlebnis, dann hören Sie irgendwann auf. Bei den Proben muss man ähnlich arbeiten, indem man, um im Bild zu bleiben, erst einmal den Rand fertigt und somit den Rahmen vorgibt. Dann setzt man die schönen Bilder zusammen, und schließlich kommt man dann beim Puzzle an den Punkt, wo das Meer oder der Himmel an die Reihe kommt – das heißt, da geht es dann wirklich um Arbeit und Ausdauer. Für die Musik heißt das, man muss die Balance halten zwischen den schönen Probensituationen, wo man die Fülle des Werkes schon erahnen kann, und denjenigen, bei denen die Arbeit im Vordergrund steht, indem man sich zum Beispiel nach den Stimmen aufteilt, und jeder paukt seine Töne.
Wie bringt man so eine herausragende Aufführung mit dem Tagesgeschäft in Einklang?
Man schaut, dass man die Kräfte, die besonders beansprucht werden, ein bisschen schont bzw. ansonsten in Gottesdiensten Stücke singt, die zum Repertoire gehören. Unabhängig davon gibt es natürlich Sonderproben oder ein ganzes Probenwochenende, bei dem wir uns nur mit der Missa Solemnis befasst haben. Alles in allem ist es ein echter Kraftakt.
Kann man ein Werk auch „zu Tode proben“?
Die Gefahr besteht durchaus! Wenn man am Ende nichts mehr zu sagen hat, wird es kritisch. Man sollte sein gesamtes Pulver also nicht in der Probenarbeit verschießen, sondern bis zur Aufführung einen Spannungsbogen halten und von der Generalprobe zur Aufführung noch etwas zulegen können. Diese ist schließlich das einzige Ziel. Man muss aufpassen, dass der perfekte Moment nicht in der Probe liegt. Den muss man für die Aufführung bewahren.
Worauf darf sich das Publikum freuen?
Ich denke auf eine historische Stunde der Dommusik und auf ein Gipfelwerk der geistlichen Literatur. Wir haben eine Qualität an Mitwirkenden, die man nur ganz selten realisieren kann, mit Solisten, die das schon auf den großen Konzertbühnen der Welt gesungen haben und einem hervorragenden Orchester. Vielleicht gefällt nicht jedem jeder Moment der Musik, aber die Aufführung wird überwältigend sein.
Interview: Andreas Wiedenhaus