08.08.2021

Wächterfunktion

Claudia Auffenberg

Liebe Leserinnen und Leser!

Das diesjährige Libori-Fest war nicht das erste, das unter dem Eindruck eines schrecklichen Ereignisses stattgefunden hat, der Flutkatastrophe nämlich. Ohne lange nachzudenken, fallen einem die später sogenannte Heinrichsflut 1965, die Loveparade in Duisburg 2010 und das Massaker von Utøya 2011 ein – Ereignisse, die jeweils im Juli über Menschen hereinbrachen und etliche Todesopfer forderten. In solchen Zeiten ist es gut oder jedenfalls hilfreich, dass Libori nicht nur Kirmes und Kultur ist, sondern auch Kirche. Denn dort hat auch diese Seite des Lebens ihren Platz.

Im Dom werden anlässlich des Festes eine Reihe zusätzlicher Gottesdienste gefeiert und oft wird dort die Leseordnung vom heiligen Liborius genutzt. Zu der gehört diese wunderbare Lesung des Propheten Jesaja (Jes52,7–10, Nachlesen lohnt!), in der es ebenfalls um eine Katastrophe geht: die babylonische Gefangenschaft mit der Belagerung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels. Das alles ist vorbei, nun kündet der Prophet die Rückkehr Jahwes nach Jerusalem an. Die Wächter haben ihn bereits erspäht und sind in einen Jubel ausgebrochen, der bis nach Jerusalem zu hören ist. Und alle, so heißt es im Text, sollen nun mitjubeln: „Brecht in Jubel aus, jauchzt zusammen, ihr Trümmer Jerusalems! Denn der HERR hat sein Volk getröstet, er hat Jerusalem erlöst.“

Das Wort Jauchzen gehört ja irgendwie nicht mehr zum aktiven Wortschatz, dennoch hat man eine ziemlich präzise Vorstellung davon, wie das klingt und vor allem, woher es kommt: von ganz innen, aus tiefstem Herzen. 

Ihr Trümmer Jerusalems – das ist ein starkes Motiv, das man sofort in die Gegenwart übersetzen kann: Flut, Corona, Missbrauchsskandal – Trümmer, wohin das Auge schaut. Ein Grund zum Jubeln ist kaum auszumachen. Oder doch?

Welt braucht keine (weiteren) Unglückspropheten

In diesen Tagen, in denen in der Kirche um deren Rolle für die Gesellschaft gerungen wird, könnte die Lesung vielleicht eine Idee liefern: Wir, die Christen, als die Wächter, als Freudenboten, als diejenigen, die Ausschau halten nach Jahwe. Und nicht: Wir als die Unglückspropheten, von denen schon Johannes XXIII. klagte, er begegne ihnen permanent auf den Fluren des Vatikans. Nein, diese Welt braucht nun wirklich keine (weiteren) Unglückspropheten, sie braucht allerdings auch keine „Jippieh-alles-wird-gut“-Glückspropheten. Sie braucht Wächter, die Ausschau nach Jahwe halten, die ihn erkennen und unterscheiden können von den falschen Göttern. Solche laufen ja durchaus auch herum. Sicher, es gibt Phasen, in denen das Leben und diese Welt wie eine gottfreie Zone erscheinen, aber es gibt doch immer auch andere Momente, in denen man spürt: Gottes Gegenwart ist keine Spinnerei. Es sind Momente, in denen man, ja tatsächlich: jauchzen könnte– oder ganz still werden.

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