„Wir bleiben Nachbarn“
Olivier Poquillon: „Die Seele Europas wiederfinden.“ Foto: KNA
Brüssel (KNA). Am 23. Juni 2016 geschah das, was viele für unmöglich gehalten hatten: Die Briten stimmten für den Austritt aus der Europäischen Union. Ob es ein Austrittsabkommen geben wird, darüber wird in Brüssel und London noch beraten. Doch nicht nur bei den EU-Mitgliedsstaaten laufen die Vorbereitungen auf den Brexit. Auch Firmen, Verbände und die katholische Kirche arbeiten an Lösungen für die Zeit nach dem Austritt. Der Generalsekretär der EU-Bischofskommission COMECE, Olivier Poquillon, sprach im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Brüssel über den Brexit und die Europawahlen im Mai 2019.
Herr Generalsekretär, was bedeutet der Brexit für die COMECE?
Der Brexit wird eine Beeinträchtigung für das Leben aller Menschen sein. Auch wenn Großbritannien die EU verlässt, wir bleiben Nachbarn. Wir rufen alle Akteure zur Verantwortung auf. Priorität sollte es sein, Lösungen für die Personen, Familien und Gemeinschaften zu finden, die unter dem Brexit leiden werden. Die EU, die Mitgliedsstaaten und Großbritannien müssen dieses Thema ernster nehmen.
Kann Großbritannien weiterhin Mitglied der COMECE sein?
Nein, Brexit ist Brexit. In unseren neuen Statuten wurde ein Gaststatus vorgesehen. Wir haben die Statuten überarbeitet und somit wird es möglich, dass Mitglieder der Bischofskonferenz von England, Wales und Schottland in Zukunft eingeladen werden können.
Entsteht durch den Brexit wie in der EU eine Lücke im Haushalt der COMECE?
Die Beiträge für die COMECE richten sich nach der Anzahl der Katholiken im Land und dem Bruttoinlandsprodukt (BIP). Aus diesem Grund ergeben sich nur geringfügige Änderungen für den Haushalt der COMECE. Größere Folgen hätte es, wenn ein Land wie Deutschland oder Italien aus der EU austreten würde.
Im kommenden Jahr finden Europawahlen statt. Wie wird sich die COMECE einbringen?
Bei der COMECE-Plenarversammlung werden die Bischöfe an Fragen arbeiten, die sie in der Debatte über die Europawahlen stellen wollen. Damit knüpfen wir an den Dialog von Re-Thinking Europe an, den wir im vergangenen Jahr im Vatikan mit Politikern, Wissenschaftlern und Geistlichen geführt haben. Wir laden die Menschen ein, die Reden des Papstes erneut zu lesen. Denn sie handeln nicht von der Vergangenheit, sondern sind Anregungen für die heutige Zeit.
Was sind Ihre Ziele?
Wir wollen ein Europa, das mehr im Dienste der Menschen, Familien und Gemeinschaften steht und kein Europa der Kontrolle. Es gilt, den europäischen Leitspruch „Einheit in der Vielfalt“ wiederzufinden. Die Entscheidungen für morgen müssen heute getroffen werden.
Welche Themen sind dabei besonders wichtig?
Es gibt zwei Punkte, die in die Zuständigkeit der EU fallen, zu denen man sich positionieren sollte: die Demografie und die Digitalisierung. Demografie ist weit mehr als die Geburtenrate. Ein Kind braucht Zeit, um zu wachsen. Es geht um die soziale, ökologische und anthropologische Umgebung, in der jemand gedeiht. Außerdem müssen wir uns auch fragen, warum viele junge Menschen ihr Heimatland verlassen. Welche Erwartung gibt es an die Zukunft? Noch nie waren wir so reich und noch nie so verzweifelt. Wir müssen dringend die Seele Europas wiederfinden.
Wie steht es mit dem allseits präsenten Thema Digitalisierung?
Dabei geht es vor allem um Veränderung. Die Digitalisierung ist keine Krise. Wie der Buchdruck im Mittelalter wird sie sich auf unser Leben auswirken. In der Kirche hat der Buchdruck zum Schisma geführt. Das Thema der Digitalisierung wird von den politischen Akteuren nicht ausreichend behandelt und ernst genommen. Wir dürfen nicht warten, bis wir uns der Technik unterordnen müssen, sondern müssen selbst handeln, damit die Technik im Dienst der Menschen steht.