„Wir sind voll entschlossen“ – Interview mit Thomas Wendland
Noch immer wird die Aufklärung von sexuellem Missbrauch beäugt. Im Januar errichteten Betroffene vor dem Kölner Landgericht symbolisch ein Lagerfeuer, auf dem Aktenordner liegen. (Foto: KNA)
Der Titel einer Geheimakte von Kardinal Meisner ist zum Synonym für die Vertuschung von Missbrauch geworden: „Brüder im Nebel“. Doch diese Haltung, davon ist der Interventionsbeauftragte des Erzbistums überzeugt, gehört der Vergangenheit an. Mit Thomas Wendland sprachen Claudia Auffenberg und Andreas Wiedenhaus
Herr Wendland, haben Sie schon einen „Bruder im Nebel“ entdeckt?
Thomas Wendland: „Mir sind Täter und Beschuldigte bekannt. Aber dieser Begriff ‚Brüder im Nebel‘ gefällt mir nicht und trifft auch nicht zu. Wir müssen die Dinge gut aufarbeiten, wir müssen sehen und ehrlich bleiben. Mit „Brüder im Nebel“ wird ja versucht, etwas feiner zu umschreiben, was eine andere Betitelung verdient hätte.“
Wie würden Sie sie betiteln?
Thomas Wendland: „Es sind zunächst Beschuldigte, und wenn sie gestanden haben oder wenn sie überführt und verurteilt sind, dann sind es Täter.“
Können Sie es für das Erzbistum ausschließen, dass es einen solchen geheimen Ordner irgendwo gibt?
Thomas Wendland: „Nein, das kann ich nicht. Ausschließen kann man natürlich nie etwas, aber ich persönlich glaube nicht, dass es einen solchen Ordner gibt. Ich kann sagen, dass ich in alle Ordner und Akten Einblick habe, die für dieses Thema relevant sind. Es gibt einen Ort, an dem die Vorgänge um Täter und Beschuldigte verwahrt werden und da habe ich Einblick. Auch die Staatsanwaltschaft ist schon dort gewesen. Auch Frau Prof. Priesching und Frau Dr. des. Hartig, die ja die historische Untersuchung vornehmen, haben Zugang zu diesen Akten.“
Wie viele Fälle bearbeiten Sie denn aktuell?
Thomas Wendland: „Für das vergangene Jahr 2021 haben wir uns 64 Fälle angeschaut und genau geprüft. Diese Zahl muss man allerdings deutlich relativieren. Es sind nicht immer neue Fälle, sondern größtenteils Folgeanträge, also von Personen, die wir schon kennen. Neun Fälle haben wir zuständigkeitshalber beispielsweise an Ordensgemeinschaften oder andere betroffene Institutionen weitergeleitet. Unter den verbliebenen Meldungen waren dann 18, die den Zeitraum von 1950 bis 1999 betreffen und bei denen uns die Betroffenen bislang noch nicht bekannt waren.“
Und was passiert mit diesen 18 Meldungen?
Thomas Wendland: „Derzeit bereiten wir die Übergabe der Fälle an die Staatsanwaltschaft vor. Alle Fälle – auch die der Verstorbenen – werden der Staatsanwaltschaft gemeldet. Von diesen 18 Meldungen sind bereits 15 Beschuldigte verstorben. Alle anderen Beschuldigten waren aufgrund ihres Alters nicht mehr im Dienst.“
Dennoch muss man mit denen umgehen.
Thomas Wendland: „Ja, richtig. Wie gesagt, geben wir Informationen an die Staatsanwaltschaft und bleiben natürlich auch im Kontakt mit den Beschuldigten.“
In der Öffentlichkeit ist oft von sehr hohen Zahlen die Rede, aber die meisten Fälle liegen lange zurück und insgesamt geht es um einen langen Zeitraum. Wie hat sich die Situation in den vergangenen Jahren entwickelt?
Thomas Wendland: „Auch bei uns stammen die meisten Meldungen aus der Vergangenheit. Aus der Gegenwart wird mir kaum etwas gemeldet und wenn, dann sind es derzeit oft Grenzverletzungen, also Vorkommen unterhalb der Strafbarkeit.“
Was sind Grenzverletzungen?
Thomas Wendland: „Als Grenzüberschreitung gilt etwas, wenn beispielsweise eine Berührung unabsichtlich oder unbedacht geschieht. Wenn jemand stolpert und im Fallen einen anderen an intimen Stellen berührt, dann war das ein Versehen, für das man um Entschuldigung bitten kann. Etwas anderes ist es, wenn jemand immer wieder die Grenzen des anderen überschreitet und die Person immer wieder in solch eine Situation bringt. Versehen oder Absicht, das macht den Unterschied. Vielleicht mal ein Fall aus der Vergangenheit: Jemand hat beklagt, dass eine Person andere und ihn immer ungewollt umarmt. Dass solche Dinge heute thematisiert und gemeldet werden, ist auch ein Ergebnis der Präventionsschulung. Menschen sind sensibilisierter als früher.“
Wir führen dieses Gespräch an dem Tag, an dem in Gummersbach ein katholischer Priester wegen zigfachen Missbrauchs zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden ist. Gibt es so jemanden auch im Erzbistum Paderborn?
Thomas Wendland: „Ein solcher Fall ist mir nicht bekannt.“
Zu Ihrer Aufgabe gehört die Zusammenarbeit mit Betroffenen, die die Bischöfe mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung vereinbart haben. Wie ist da der Stand der Dinge?
Thomas Wendland: „Seit September vergangenen Jahres gibt es eine Arbeitsgruppe mit Betroffenen, die das Erzbistum ins Leben gerufen hat. Mit ihnen gemeinsam wollen wir überlegen, wie Betroffenen im Erzbistum Paderborn eine Stimme gegeben wird. Inzwischen hat es ein Treffen von Betroffenen gegeben, aus dem sich derzeit eine Betroffenenvertretung gründet. Wir begleiten und unterstützen das, aber – und das ist wichtig – die Betroffenen entscheiden und handeln eigenständig.“
Warum arbeiten Betroffene überhaupt mit dem Erzbistum zusammen?
Thomas Wendland: „So wie ich es wahrnehme, geht es zunächst ums Vernetzen. Betroffene erleben sich oft als mit sich allein. Hier geht es darum, sich gemeinsam zu positionieren, die Anliegen als Betroffene nach außen zu vertreten und durchaus auch Forderungen zu stellen. Und es geht ihnen auch darum, sich gegenseitig zu unterstützen.“
In der Öffentlichkeit ist oft von Geld die Rede, die Höhe der Anerkennungsleistung ist vielfach Thema. Geht es auch darum?
Thomas Wendland: „Das ist hoch individuell, aber ich würde nicht sagen, dass der finanzielle Aspekt der Haupttreiber ist. Natürlich sind unter den mir bekannten Betroffenen auch Personen, die in einer prekären finanziellen Lebenssituation sind. Dass es vor allem dann auch um finanzielle Interessen geht, ist völlig legitim. Geld wird das Leid niemals aufwiegen, dennoch sind die Anerkennungsleistungen – und der Begriff ist nicht schlecht gewählt – ein Indikator dafür, dass anerkannt wird, was erlitten wurde.“
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Für die Öffentlichkeit ist bislang wenig geschehen. Alle Bischöfe sind noch im Amt und es gab bislang kein öffentliches Zeichen, einen Bußakt oder ähnliches. Bei der letzten Synodalversammlung war das ein Thema.
Thomas Wendland: „Die Synodalversammlung hat eine Arbeitsgruppe dazu eingesetzt. Das finde ich sehr begrüßenswert. Man muss eine Form finden, wie angemessen gehandelt werden kann. Es hilft den Betroffenen wenig, wenn jetzt reihenweise die Bischöfe ihre Reue bekunden, das wird dann auch irgendwann unglaubwürdig. Und wenn jemand erklärt: „Ich bedaure“, dann müsste schon gesagt werden, was genau er bedauert. Es darf nicht einfach eine leere Betroffenheitsrhetorik sein.“
Apropos Glaubwürdigkeit: Da liegen hohe Erwartungen auf Ihnen. Belasten die Sie?
Thomas Wendland: „Die Aufarbeitung muss glaubwürdig sein. Aber klar: Niemand hat es gern, wenn in die eigene Geschichte geschaut und das eigene Versagen festgestellt wird. Das ist schmerzhaft, aber ich glaube, man hat in der Kirche erkannt, dass daran kein Weg vorbeiführt. Wenn man wirklich Strukturen verändern will, dann geht es nur, wenn man da hinschaut. Man kann sich fragen, ob es klug war, dass nun jedes Bistum ein Gutachten veröffentlicht und so das Thema immer wieder in die Öffentlichkeit kommt. Ich glaube, es geht nicht anders. Und ich glaube: Bei uns funktioniert die Aufarbeitung. Es dauert eine Weile, bis so etwas akzeptiert wird. Das Thema Aufarbeitung wird auch vor Ort immer bewusster. Durch das Forschungsprojekt von Frau Priesching, das jetzt seit zwei Jahren läuft, melden sich bei uns mehr Menschen als vorher. Im letzten Jahr hatten wir wie erwähnt 64 Meldungen, das ist deutlich mehr als in den Jahren zuvor. Die Menschen, die sich bei uns melden, hatten schon Kontakt zu Frau Dr. des. Hartig oder haben davon gehört. Das ist bereits ein klares Ergebnis von glaubwürdiger Aufarbeitung. Ich nehme jedenfalls unserem Erzbistum ab, dass es Aufarbeitung ernsthaft will. So erlebe ich es in meiner Arbeit.“
Die Missbrauchskrise führt zu Austrittszahlen in Rekordhöhe. Sie sind nah dran, erfahren mehr als die meisten von uns. Haben Sie auch schon mal über einen Austritt nachgedacht?
Thomas Wendland: „Nein! Ich zweifele nicht an dem ernsthaften Aufarbeitungswillen und das hilft mir zu sagen: Ich bleibe dabei. Kirche ist wesentlich mehr. Ich habe einige Jahre das Beschwerdemanagement des Erzbistums geleitet, ich kenne das Versagen auf verschiedenen Ebenen. Aber ich bekomme im privaten Umfeld mit, dass Leute gehen, die der Kirche eigentlich eng verbunden sind. Generalvikar Hardt hat ja neulich gesagt, es treten Menschen aus, um ihren Glauben zu retten. Das schmerzt mich sehr. Aber ich habe nicht vor auszutreten.“
Zur Person
Seit Anfang 2021 ist Thomas Wendland Interventionsbeauftragter des Erzbistums. Er koordiniert federführend in einem angezeigten Missbrauchsfall alle notwendigen Maßnahmen. Zuvor war Wendland im Generalvikariat sowohl für Priesterbegleitung und Qualitätssicherung als auch für Beschwerde- und Konfliktmanagement zuständig.
Historische Studie
Das Erzbistum hat die Universität Paderborn mit einer historischen Studie über die Amtszeiten der Erzbischöfe Jaeger und Degenhardt, also den Zeitraum 1941 bis 2002, beauftragt. Geleitet wird die Studie von der Kirchenhistorikerin Prof. Dr. Nicole Priesching und ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Dr. des. Christine Hartig. Für die Studie werden weiterhin Zeitzeuginnen und -zeugen gesucht. Ansprechpartnerin ist Dr. des. Christine Hartig. E-Mail: christine.hartig@uni-paderborn.de; telefonisch (Montag bis Mittwoch) 0 52 51/60-44 32