Wo ist unsere diakonische Aufgabe? – Josef Lüttig im Interview
Der Esel, eine Figur aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, ist ein Abschiedsgeschenk der Caritaspräsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa. (Fotos: Maria Stickeler)
Über 30 Jahre stand Josef Lüttig im Dienst des Diözesan-Caritasverbandes, zuletzt 14 Jahre als dessen Direktor. Im Januar wurde er in den Ruhestand verabschiedet, an seinem vorletzten Arbeitstag war er zu einem Interview in der Dom-Redaktion.
Herr Lüttig, woran merkt der Bewohner eines Altenheimes, dass er in einer katholischen Einrichtung lebt?
Josef Lüttig: „Als erstes sicher am Kreuz oder am Caritas-Flammenkreuz, das im Eingang eines Hauses angebracht ist. Aber das sind zunächst Äußerlichkeiten. Bei Leitbildentwicklungen in Caritasverbänden habe ich etwa immer dafür plädiert, nicht zu fragen, wodurch wir uns von anderen unterscheiden, sondern nach dem, was uns ausmacht. Denn das ist ja keine Frage des Marketings. Uns macht aus, dass wir unsere christliche Grundmotivation haben, zum einen als Organisation, aber ich bin mir ganz sicher auch in den Seelen, Herzen und Köpfen der Menschen, die bei uns arbeiten. Nach ihrer Motivation befragt, sagen Pflegekräfte allerdings – anders als Priester – nie: „Ich tu das in der Nachfolge Jesu“, und zwar einfach, weil das nicht ihre Sprache ist.“
Haben Sie die Mitarbeitenden mal danach gefragt?
Josef Lüttig: „Ja, mehrfach! Und da haben Mitarbeitende geantwortet, sie empfänden es als Anmaßung, für ihre „normale Arbeit“ solche frommen Begriffe wie „Nachfolge Jesu“ zu verwenden. Sie sagen eher: „Mir sind die Menschen wichtig, ich möchte mich für ihre Würde einsetzen.“ Deswegen ist mir in solchen Diskussionen immer wichtig zu sagen: Macht es nicht fest an Begriffen, macht es fest an den wirklichen Grundmotiven der Menschen. Um die zu erkennen, muss man manchmal tiefer graben oder sensibler hinschauen. Es gibt sehr wohl ein tiefes christliches Bewusstsein, ohne dass es ausdrücklich so formuliert wird, aber das finde ich ehrlicher, als wenn nur fromm gesprochen wird.“
Von außen gibt es die Erwartung, dass es in katholischen Einrichtungen herzlicher zugeht als anderswo.
Josef Lüttig: „Das ist eine berechtigte Erwartung. Viele Mitarbeitende haben sehr wohl das Bedürfnis, jemanden nicht nur „warm, satt und sauber“ zu versorgen, sondern auf die Situation einzugehen, in der sich etwa ein krebskranker Mensch befindet oder ein behinderter Mensch, der sich um seine familiäre Zukunft sorgt. An solchen Punkten entscheidet sich, ob wir den Menschen sehen oder nur die Hüfte, die zu operieren ist. Als Caritas haben wir immer den Anspruch an uns, bei allem Stress, den es bei uns natürlich auch gibt, zumindest einen anderen Blick auf Menschen zu haben. Daher habe ich einen hohen Respekt vor unseren Mitarbeitenden etwa in der ambulanten Pflege, die sich trotz der engen Taktung die Zeit nehmen, mal ein Vaterunser mit einem Patienten zu beten und das notfalls auf die eigene Kappe zu nehmen. Aber es ist immer ein Balanceakt zwischen wirtschaftlichem Druck und menschlich-empathischem Handeln.“
Kommt das Problem nicht auch dadurch zustande, dass die kirchlichen Einrichtungen genauso Teil des Sozialwesens sind wie alle anderen?
Josef Lüttig: „Wir haben uns an Rechtsvorschriften zu halten und an Vorgaben der Kostenträger. Den konkreten Alltag können wir schon eigenständig gestalten. Das haben wir mit Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip immer deutlich gemacht. Und wir sind in keiner Weise profitorientiert. Aber klar, wir müssen wirtschaftlich handeln, denn wir betreiben viele Einrichtungen unabhängig von Kirchensteuern. Die fließen etwa in einem Altenheim oder in einem Krankenhaus nicht in den laufenden Betrieb. Das muss durch die Pflege- oder die Krankenversicherung etwa realisiert werden.“
Vielleicht ist es etwas naiv gedacht, aber die Caritas ist doch ein sehr großer Akteur. Könnte sie nicht mit den Kostenträgern in dem Sinne verhandeln: Ihr gebt uns das Geld wie den anderen auch, aber intern verteilen wir es anders und zeigen, wie es geht.
Josef Lüttig: „Wir verhandeln natürlich, sowohl als Caritas wie auch als freie Wohlfahrtspflege. Wir arbeiten eng zusammen mit den anderen Anbietern, etwa dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, der Diakonie, dem DRK oder der AWO. Das war ein großer Teil meiner Aufgabe. Aber auch ein Kostenträger hat seine Rahmenbedingungen. Für die Behindertenhilfe etwa zahlt jede Kommune über den Landschaftsverband und deren Budget ist sehr eng. Vor allem die Kommunen, die der Haushaltssicherung unterliegen, dürfen nur noch das bezahlen, wozu sie verpflichtet sind. Ein Beispiel ist das Bundesteilhabegesetz. Das Gesetz ist richtig gut und ermöglicht Menschen mit Behinderung sehr viel Teilhabe, aber die muss bezahlt werden. Das ist Sache der Kommunen und die versuchen im Moment, die Umsetzung des Gesetzes finanziell eher zu erschweren als den Leistungserbringern dazu gute Rahmenbedingungen zu schaffen.“
Gibt es so etwas wie politische Lobbyarbeit in Düsseldorf oder Berlin?
Josef Lüttig: „Intensiv, auf Landes- und auf Bundesebene. Der deutsche Caritasverband macht sehr intensive Lobbyarbeit in Berlin und sucht die Nähe zu Politikern. Unsere Lobbyarbeit läuft natürlich nicht über Bestechung, sondern durch Argumentation. Wir laden Politiker in unsere Einrichtungen ein, damit sie erleben, wie die Lage dort ist.“
Behindertenwerkstätten sind solche Einrichtungen. Manche sagen, sie gehörten abgeschafft, weil sie eine Sonderwelt schaffen und damit das Gegenteil von Inklusion sind. Wie stehen Sie dazu?
Josef Lüttig: „Die Frage ist: Wer will diese Werkstätten nicht? Die Menschen mit Behinderung sagen oft: „Wir wollen sie!“ Sie haben ein Recht auf Arbeit und das wird ihnen dort ermöglicht. Manche sind aufgrund ihrer Behinderung gar nicht arbeitsfähig. Was diese Kolleginnen und Kollegen dort erbringen, ist vielleicht keine verkaufbare Leistung, trotzdem werden sie dort beschäftigt. Die Werkstatt ist ein sehr wertvoller Lebensraum für sie. In der Pandemiezeit waren die Werkstätten geschlossen und die Menschen durften nicht hinein. Darunter haben viele unglaublich gelitten, weil sie zu Hause saßen. Manchmal werden die Werkstätten als Ausbeuterunternehmen dargestellt, aber das sind sie nicht! Wir geben Menschen mit Behinderung Arbeit und die Möglichkeit, sich zu entfalten. Im Prinzip sind die Werkstätten keine Produktionsorte, sondern Rehaeinrichtungen. Das ist der Ansatz. Deswegen brauchen wir ein anderes Entlohnungssystem, das ist unser Anliegen. Aber der Stein der Weisen muss da noch gefunden werden.“
Kommen wir mal zum Thema Kirche und Caritas …
Josef Lüttig: „Ein spannendes Feld!“
Die Caritas rettet nach diversen Umfragen das Image der Kirche. Ist Ihnen das eigentlich recht?
Josef Lüttig: „In der Tat belegen Umfragen, dass das Image des Caritasverbandes deutlich besser und unbelasteter ist als das der Kirchen. Es ist uns durchaus recht, wenn es den positiven Transfer gibt, dass also die katholische Kirche mit ihrer Caritas gesehen wird, weil wir schlicht und ergreifend dazugehören. Manchmal ist es uns nicht recht, weil wir als Caritas auch auf das Thema Missbrauch angesprochen werden oder mit uns über erwartete Rücktritte von Bischöfen diskutiert wird. Das ist schon eine Belastung, die wir spüren und die uns von anderen Wohlfahrtsverbänden gelegentlich auch vorgehalten wird. Aber insgesamt ist die Marke Caritas sehr stark und wird gut wahrgenommen. Wir sollten sie weiterhin pflegen. Wenn die katholische Kirche als unsere Mutter davon etwas abbekommt, ist es mir persönlich sehr recht. Denn sie stärkt uns als Caritas auch. Hier im Erzbistum Paderborn haben wir in den vergangenen Jahren rund zwölf Millionen Euro Sondermittel für armutsorientierte Projekte bekommen, die durch andere Kostenträger nicht refinanzierbar waren. Wir konnten tolle Projekte für Flüchtlinge machen, wir können seelsorgliche Begleitungen in Altenheimen finanzieren. Wir profitieren also auch von der Kirche. Ich würde es mal so sagen: Es ist ein lebendiges verwandtschaftliches Verhältnis.“
Ist die Verwandtschaft lernwillig? Oder anders gefragt: Nutzen Sie Ihren guten Ruf, um in der Kirche Einfluss zu nehmen?
Josef Lüttig: „Wir hatten immer einen engen Dialog mit dem Erzbischof und dem heutigen Diözesanadministrator und einen noch engeren mit den Entscheidungsträgern im Generalvikariat, von denen ich ja selbst einer war. Bei wesentlichen Entscheidungen bin ich dabei gewesen und habe meine Themen einbringen können. Dass die Kirche nicht nur karitativ denkt, ist klar, aber wir haben kürzlich noch entschieden, dass es im Generalvikariat eine Kompetenzeinheit „diakonische Pastoral“ geben wird. Mehr und mehr wird deutlich, dass die Kirche nicht einfach eine Arbeitsteilung mit dem Caritasverband braucht, sondern selbst diakonisch handeln muss. Auch vor Ort müssen wir in den verschiedenen Gruppen schauen: Wo ist unsere diakonische Aufgabe? Caritas ist nicht nur Sache des Caritasverbandes oder der Caritas-Konferenz, sondern auch die einer katholischen Schule, einer katholischen Kita, einer Kirchengemeinde. Überall, wo Kirche dransteht, steht auch Caritas dran. Das müssen wir neu lernen.“
Wie machen sich die vielen Kirchenaustritte bemerkbar?
Josef Lüttig: „Die Haltung in der Gesellschaft, die Menschen zum Kirchenaustritt veranlasst, macht uns das Leben durchaus schwer. Und die Themen, die oft zum Austritt führen, kennen wir als Caritas auch und es gibt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich mit ihrer Kirche schwertun. Die neue Grundordnung macht es etwas leichter, da können wir viel mehr Vielfalt ermöglichen und die Kirche ist dadurch hoffentlich mehr die einladende und nicht die sanktionierende. Wenn jemand seinen Austritt ankündigt, gibt es zunächst Gespräche, aber nicht mehr in dem Sinne: Du kannst dann nicht mehr zu uns gehören. Dennoch ist ein Austritt der Worst Case. Damit sagt man ja im Prinzip: Zu der Firma, bei der ich arbeite, möchte ich nicht mehr gehören.“
Manche sagen, sie wollen nach einem Austritt die eingesparte Kirchensteuer für einen guten Zweck spenden. Bekommen Sie jetzt mehr Spenden?
Josef Lüttig: „Zumindest bekommen wir nicht weniger – trotz der Krise. Und das zeigt, dass wir nach wie vor vertrauenswürdig sind. Die Pandemie und der Krieg haben Menschen sehr verunsichert, auch in der Frage, wofür sie ihr Geld ausgeben. Wenn dann die Spenden nicht weniger werden, empfinde ich das als eine positive Aussage. Da wir keine reine Spendenorganisation sind und keine Verwaltungskosten von den Spenden abzuziehen brauchen, können wir sie zu 100 Prozent weitergeben. Kurz vor Weihnachten haben wir um Spenden für unsere Syrienhilfe gebeten. Daraufhin hat sich etwa jemand beschwert, dass wir überhaupt um Spenden bitten, obwohl das Erzbistum doch so reich sei und wir Kirchensteuermittel bekämen. Ich habe mir sehr viel Zeit genommen, dieses Schreiben zu beantworten. Daran merkt man, dass es Reflexe gibt, die auch nicht völlig unbegründet sind. Die Leute sind einfach sensibel und differenziert distanziert geworden.“
Heute ist Ihr vorletzter Arbeitstag. Gibt es ein Ereignis aus den letzten 31 Jahren, das Ihnen besonders in Erinnerung bleiben wird?
Josef Lüttig: „Ein einzelnes nicht, sondern viele Begegnungen sind mir unvergesslich. Bei meiner Verabschiedung ist mir aber ein Thema noch mal bewusst geworden. Zu Beginn meiner Tätigkeit haben wir regelmäßig mit neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Gleichnis des barmherzigen Samariters gearbeitet und uns mit den Figuren beschäftigt, die darin vorkommen: die Räuber, der Überfallene, der Priester, der Levit, der Samariter natürlich, der Wirt und der Esel. Wir haben uns gefragt: Wer sind wir? Zum Abschied hat mir die Präsidentin des deutschen Caritasverbandes einen Esel geschenkt und der ist mir in dem Gleichnis eine sympathische Figur. Dennoch kann ich die Frage, wer wir sind, auch nach 31 Jahren bei der Caritas nicht eindeutig beantworten. Klar, wir sind der Samariter, wir sind der Esel und der Wirt. Aber wir laufen immer auch Gefahr, und das meine ich ganz ernst, vorbeizugehen, weil uns anderes wichtiger erscheint oder keine Bezahlung vereinbart ist.“
Die Caritas in der Rolle des Priesters und des Leviten?
Josef Lüttig: „Ich will nicht verhehlen, dass mir deren Handeln durchaus bekannt vorkommt. Wir gehen sehr selten vorbei, aber ich würde doch gern mehr tun, etwa für Wohnungslose. Ich habe neulich die youngcaritas in Dortmund begleitet. Junge Frauen ziehen abends mit warmen Getränken und Sanitärartikeln in die Innenstadt und sprechen Leute an, die da auf der Straße leben. Der Türöffner ist schlicht die Frage: „Dürfen wir Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Niemand hat abgelehnt, sondern jeder war dankbar, als ein Mensch erkannt zu werden, der etwas zu trinken braucht. Diese jungen Frauen mit ihrer ruhigen Art haben mich unglaublich beeindruckt. Vielleicht müssen wir hier und da noch mehr basale Arbeit leisten, auch wenn sie nicht durch den Sozialstaat abgedeckt ist.“
Zur Person
1957 in Paderborn geboren, studierte Josef Lüttig nach dem Abitur in Paderborn, München und Benediktbeuern. Seine Studien schloss er als Diplom-Theologe, Diplom-Sozialarbeiter und Master of Organizational Psychology ab. Nach sozialarbeiterischer Tätigkeit war er von 1984 bis 1991 Referent im Missionsreferat des Erzbischöflichen Generalvikariates Paderborn.
Anschließend leitete er im Diözesan-Caritasverband Paderborn die Fachstelle Personal- und Organisationsentwicklung und war Geschäftsführer des Albertus-Magnus-Vereins zur Unterstützung katholischer Studierender. Von 1994 bis 1999 leitete er zusätzlich die Stabsstelle Gemeindecaritas und war mit Gründung des Diözesanen Ethikrates im Jahr 2007 dessen erster Geschäftsführer. Im Jahr 2005 wurde ihm die Aufgabe des stellvertretenden Diözesan-Caritasdirektors übertragen.
2009 wurde er Diözesan-Caritasdirektor und leitete seitdem zugleich den Bereich Caritative und soziale Dienste im Erzbischöflichen Generalvikariat. 2019 wurde er Flüchtlingsbeauftragter des Erzbistums Paderborn. Nach einer Satzungsreform, die nunmehr einen hauptamtlichen Vorstand für den Diözesan-Caritasverband vorsieht, war Lüttig ab 2019 Vorstandsvorsitzender des Verbandes. Auch auf Landes- und Bundesebene war er in zahlreichen Gremien und Ausschüssen aktiv.
Mit Josef Lüttig sprachen Claudia Auffenberg und Helena Mälck
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