Nils Petrat im Interview – Worüber reden wir eigentlich?
Nils Petrat zu Gat in der DOM-Redaktion. (Foto: Patrick Kleibold)
Aus dem Hohen Dom und dem Fernsehen kennen ihn viele, jetzt ist Dompastor Nils Petrat auch unter die Buchautoren gegangen. In einer Zeit, in der viel über Kirche geredet und gestritten wird, möchte er lieber über den Glauben und die Gottesbeziehung reden. Aber auch einem wie ihm fällt es nicht leicht. Das interview führte Claudia Auffenberg.
Herr Petrat, was ist der Mehrwert des Glaubens in einer freien und sozial stabilen Gesellschaft wie der unsrigen?
Nils Petrat: „Wir haben zwar sehr viel und sind eigentlich mit allem versorgt, trotzdem spürt man doch immer wieder diese Sehnsucht nach etwas Tiefgründigem, etwas Tragendem, nach einer anderen Art von Sinn und Erfüllung. Da ist der Glaube eine wichtige Dimension, wenn ich mehr möchte als nur eine oberflächliche oder materielle Rundumversorgung. Der Mensch hat schließlich noch andere Seiten, die genährt oder zumindest doch angesprochen werden wollen.“
Als Dompastor und Studierendenpfarrer leben Sie in einem Umfeld, das den Glauben mitliefert. Würden Sie auch von Menschen, die ganz anders leben als Sie, sagen, dass sie diese Sehnsucht spüren?
Nils Petrat: „Theologisch ist es gar nicht anders denkbar. Wenn wir von Gott herkommen, dann ist diese Sehnsucht in jedem Menschen. Natürlich ist die Wahrnehmung vielfach eine andere. Inzwischen gibt es Theologen, die sagen, diese Grundsehnsucht könne möglicherweise ein ganzes Leben gar nicht aktiviert werden. Aber ich möchte von dieser Grundvorstellung nicht lassen und bei Gesprächen, die ich mit Leuten führe, kommen wir schon an tiefere Schichten heran, etwa wenn wir über Leid- oder Liebeserfahrungen sprechen. Die sind oft die großen Einfallstore für den Gedanken, dass es mehr als nur Materielles gibt.“
Als Gesellschaft haben wir gerade eine kollektive Leiderfahrung hinter uns: Corona. Das hat aber der Kirche nichts gebracht, wenn man das mal so sagen darf.
Nils Petrat: „Corona hat den Glauben der Gläubigen gestärkt, aber die, die nicht gläubig waren, sind es dadurch nicht geworden. Das sagen jedenfalls die ersten Studien zu dem Thema. Aber es könnte für uns als Kirche ein Anknüpfungspunkt sein, den Glauben ins Gespräch zu bringen. Was nützt es, wenn wir die leibliche Gesundheit um jeden Preis schützen, aber die Seele des Menschen dabei aus dem Blick verlieren?“
Nun haben Menschen auch in der Kirche Leiderfahrungen gemacht. Inwieweit betrifft Sie der Missbrauchsskandal bei Ihrer Seelsorge?
Nils Petrat: „Das geht schon ins Mark. Kirche soll ein Schutzraum sein, in dem ganz andere Erfahrungen gemacht werden: Liebe, Annahme, Geborgenheit. Deswegen erschüttern dieser Skandal und sein Ausmaß mich sehr. Ich habe selbst erlebt, dass Menschen Priestern pauschal Vorwürfe machen. Es wird eine entscheidende Frage sein, ob es uns gelingt, damit authentisch und glaubwürdig umzugehen und Heilung der Wunden zu ermöglichen.“
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Wo in der Kirche wird denn die Grundfrage nach Gott gestellt?
Nils Petrat: „Das genau ist meine Anfrage: Wo erleben die Leute bei uns, dass wir der Ort für unsere Sehnsucht sind, für den Umgang mit Leid und Schönheit? Ich würde mir wünschen, dass wir alle kirchliche Energie– personell, finanziell– darauf lenken und uns weniger um Kirchenpolitisches kümmern. Klar, diese Dinge müssen geklärt werden. Bevor man bei Gesprächen zu tieferen Themen kommt, muss ich fast immer erst über diese Mauer: „Ihr seid undemokratisch, nicht auf der Höhe der Zeit“. Das nervt! Deswegen wäre es schon schön, wenn manches jetzt mal erledigt würde. Aber mein Fokus liegt stärker auf den Glaubensfragen. Im Idealfall würde sich daraus eine Umgangsform auf der Höhe des Evangeliums entwickeln, die diese ganzen Diskussionen obsolet macht.“
Haben Sie Räume, in denen Sie über Jesus sprechen können?
Nils Petrat: „Ja, zum einen habe ich das Glück, in meinem beruflichen Setting geschützte Räume zu haben, etwa bei Gesprächsabenden mit Studierenden. Und hier in Paderborn gibt es ein paar Gesprächspartner. An zwei, drei Orten bin ich spirituell beheimatet und kann da aufladen, das sind St.Peter in Freiburg, das Geistliche Zentrum des Erzbistums Freiburg, und St.Georgen in Frankfurt, ein Zentrum der Jesuiten. Daraus lebe ich sehr! Dann mache ich regelmäßig Schweigeexerzitien, denn Stille und Kontemplation sind für mich etwas ganz Wesentliches.“
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Was für ein Gott ist das, auf den Sie vertrauen?
Nils Petrat: „Ich vertraue auf einen großzügigen Gott, der sehr viel Freiraum und Potenzial schenkt. Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten liebe ich sehr. Es erzählt von einem Gott, der erst einmal gibt und sagt: „Hier, mach!“ Ein Gott, der einen großen Vertrauensvorschuss gibt und doch zusagt, da zu sein, wenn man ihn braucht. Auch Jesus traut seinen Jüngern sehr viel zu. Wichtig ist mir noch der Gedanke: Christus in mir, sein Geist lebt und wirkt in uns. Ich spüre schon eine beständige Kraft in mir, einen Impulsgeber, einen Beistand, einen Tröster.“
Freiraum haben wir Menschen doch mehr als genug. Wozu braucht man da noch Gott?
Nils Petrat: „Äußere Freiheit haben wir, aber Gott schenkt innere Freiheit. In Gesprächen höre ich viel von inneren Verstrickungen: schwierige Beziehungen, komplizierte Familienkonstellationen. Manche sehen ihre Zukunft nicht klar. Solche Unfreiheit erlebe ich oft und zugleich die Sehnsucht nach einem inneren Freiraum.“
Wenn Sie mit Menschen reden, die nichts mit Kirche zu tun haben und weit weg vom Glauben sind, wie groß ist dann Ihr Drang, das Gespräch Richtung Glaube zu steuern?
Nils Petrat: „Oft brauche ich das Thema gar nicht zu bringen, weil die anderen es tun. Da sitzt ein Priester und das provoziert. Meistens beginnt es mit dem üblichen Kirchenfrust, aber im zweiten Schritt gibt es doch Möglichkeiten, über anderes zu sprechen. Aber ich muss ehrlich sagen: Wenn ein guter Freund oder jemand aus dem Familienkreis aus der Kirche austritt, kann ich das nicht einfach so von meiner Person trennen. Das macht mich sehr traurig.“
Reden Sie mit Ihren Mitbrüdern über solche Gefühle?
Nils Petrat: „Mit wenigen. Jeder von ihnen hat ähnliche Erfahrungen gemacht, aber manche gehen sehr schnell darüber hinweg. Ich kann das nicht.“
Reden Sie mit Ihren Mitbrüdern über Ihren Glauben?
Nils Petrat: „Auch mit wenigen. Auch bei uns Priestern geht es oft erst mal um die Kirchenthemen, über den Synodalen Weg oder über Köln. Über das Beten habe ich schon sehr schöne Gespräche führen können, denn mit dem Beten haben durchaus auch manche Priester ihre Schwierigkeiten, das muss man ehrlich sagen. Die Frage „Hast du eine Beziehung zu Gott?“ ist ja für Priester eine sehr wichtige, mit manchen kann ich darüber sprechen.“
Interessant. Wir hatten zunächst überlegt, dieses Interview mit der Frage zu beginnen: Glauben Sie an Gott, Herr Petrat?
Nils Petrat: „Nach meinen bisherigen Erfahrungen würde ich die deutlich mit Ja beantworten, aber, klar, die Frage kann man stellen. Nicht nur Priestern, auch pastoralen Mitarbeitern oder Ehrenamtlichen. Mir steht da kein Urteil zu, aber nach meinem Eindruck sind manche mit Gott noch nicht in Berührung gekommen. Das ist eine meiner Kernthesen: Wir sprechen in der Kirche nicht über Gott und diese persönlichen religiösen Fragen. Wir helfen uns auch nicht gegenseitig: Wie geht beten? Wie lass ich mich vom Heiligen berühren? Wir umschiffen die und begeben uns auf andere Schauplätze, also etwa die altbekannten Kirchenthemen. Dazu kann jeder was sagen. Das gilt übrigens auch für Rom: Gab es schon mal eine Bischofssynode zum Gebet oder zu „Wer war Jesus von Nazareth?“? Nein!“
Aber warum wird in der Kirche so wenig über Gott gesprochen?
Nils Petrat: „Tja… Vielleicht, weil es echt sehr persönlich ist, für viele sogar peinlich. Und wir haben für religiöse Erfahrungen keine eindeutige Sprache. Ich kann sagen: „Ich stand eben zehn Minuten im Stau.“ Da könnte ich genau beschreiben, was passiert ist. Doch wenn ich erzählen soll, was ich in Exerzitien fühle und erlebe, komme ich auch ins Stocken. Aber wir reden nicht nur nicht, wir halten auch zu wenig Stille. Kirche könnte gut mal in die Stille gehen. Daraus würde dann eine andere Sprache erwachsen. Man spürt es ja: Wenn man eine Zeit lang still war, redet man hinterher anders und nicht sofort über Köln und solche Dinge. Allerdings, dieses übermäßige Reden von Jesus, wie es manche Kreise praktizieren, möchte ich auch nicht propagieren. Es müsste in der Kirche deutlich werden, worum es bei uns geht: um das Heilige, um Gott, um das Evangelium und eine Veränderung, die bei mir passieren soll. Dann kann ich rausgehen und die ganze Welt verändern.“
Wollen Sie sich auch noch verändern?
Nils Petrat: „Ja, klar. Ich bin mit meinem Glauben noch lange nicht fertig! Und ich freue mich auf das, was da noch kommt.“