20.11.2022

Wozu sind Sie da, Annette Kurschus?

Ich bin da, um zu leben – mit anderen zusammen, fröhlich, traurig, nachdenklich, glücklich, betrübt, lachend, weinend, ausgelassen, still: Ich bin da, um da zu sein, in der ganzen Fülle des Lebens. Es gibt Momente, in denen ich schier überwältigt bin vom Staunen, dass es ausgerechnet mich gibt. Das ist dann wohl ein Augenblick von denen, in dem so ein Satz seinen Weg über meine Lippen findet: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin, wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“ (Psalm 139,13–14). Der Sinn des Lebens ist es zu leben, nicht mehr und nicht weniger. Und das ist schon ganz schön viel. Aus dem folgt alles: dass ich es nicht ertrage, wenn das Leben kaputtgemacht wird.

Es gibt Zeiten, in denen ich mich vom Leben abgeschnitten fühle, ja. Ich ertrage es kaum, wenn ich Menschen sehe, die am Leben gehindert werden, oder für die das Leben wegen bestimmter Umstände zur Bürde wird, wenn ich vertrocknete Bäume sehe und verschandelte Landschaften. Es wühlt mich auf, es schmerzt mich, und ich tue das Meine dafür, dass das anders wird, weil ich so gerne lebe.

„Ich bin genug“ stand auf einem Kalenderblatt geschrieben, über das eine Kollegin im Landeskirchenamt neulich in der wöchentlichen Andacht gesprochen hat. Wenn ich gewiss bin, dass Gott mich nach seinem Bilde geschaffen hat, dann darf ich es daran genug sein lassen. Und dann sollte es auch gelingen, jedem anderen Menschen zuzubilligen: auch wenn du anders bist, selbst wenn ich dich nicht mag: Du bist genug. Daran unermüdlich zu erinnern, mich selbst und meine Mitmenschen, das treibt mich an. Hassreden und pauschalen Schuldzuweisungen will ich keinen Raum lassen, und wenn die Würde von Menschen missachtet und verletzt wird, sehe ich rot. 

Annette Kurschus: „Es kann und es wird gut werden“

Klar, ich bin auch dazu da, meine Gaben einzusetzen. Nicht, um mir damit eine Existenz­berechtigung zu schaffen; die hängt ja nicht an dem, was ich kann und weiß. Ich weigere mich, die komplizierte Wirklichkeit simpel zu machen. Vielleicht ist auch das eine Gabe. Allzu leichtfertige Antworten auf große Fragen machen mich trotzig. Das Leben geht nämlich nicht auf in Ja oder Nein, richtig oder falsch, gut oder böse, schwarz oder weiß. Gott hat mir Freude an der Sprache geschenkt und mich mit einem feinen Gespür dafür ausgestattet, Sprache – auch für das Beschreiben von differenzierten Zwischentönen – einzusetzen. Diese Gabe nutze ich, um von Gott zu reden, der das Leben liebt und unser Leben will. Das muss ausdrücklich gesagt werden, immer wieder, besonders in Zeiten, die derart verliebt sind in Gewalt und Tod wie unsere.

Zurzeit sind viele Menschen von Furcht und Sorge getrieben. Die Kirchen tragen die Gewissheit der göttlichen Verheißung in die Welt: Es kann und es wird gut werden. Deshalb hat jeder noch so kleine Einsatz für das Leben und für andere Menschen Sinn. Wer darauf vertraut – und das tue ich –, wird erstaunlich mutig und fähig zum Widerstand. Denn in diesem Vertrauen bin ich nicht auf meine sehr begrenzten Kräfte festgelegt, sondern ich lebe aus einer Kraft, die über meine eigene hinausgeht. Sie wächst mir von Gott her zu. Es ist ein großer Unterschied, ob ich aus Angst handle oder aus Zuversicht. Zuversicht kann ich nicht herstellen, aber ich kann von ihr reden und für sie werben. Ich bin darauf angewiesen, dass andere sie mir zusprechen. Denn was braucht unsere Gesellschaft gegenwärtig nötiger als solche Kraft, die Mut zum Leben macht?

Wozu sind Sie da, Annette Kurschus?

Zur Person Annette Kurschus

Annette Kurschus (59) ist seit 2012 Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen mit Sitz in Bielefeld und seit November 2021 zugleich Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.

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Unsere Reihe Menschen im Erzbistum

Wozu bist du da, Kirche von Paderborn? Diese Frage stellte der emeritierte Paderborner Erzbischof Hans-Josef Becker dem Zukunftsbild voran, auf dessen Basis das Erzbistum entwickelt wird. Wozu bist du da? Diese Frage kann sich auch jeder Einzelne stellen. Denn die Grundannahme des Zukunftsbildes ist eine biblische, dass nämlich jeder Mensch berufen ist, dass jede und jeder das eigene Leben als von Gott angenommen betrachten darf, dass es einen Sinn dieses Lebens gibt. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, die Frage für sich zu beantworten.

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