Wozu sind Sie da, Frau Boye Toledo?
Karin Boye Toledo (54) ist Diplom-Sozialarbeiterin und leitet seit 21 Jahren das AWO-Frauenhaus in Bielefeld.
Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, haben einen schwierigen Weg vor sich. Bis sie wieder Vertrauen in sich und andere Menschen gewinnen können, kann viel Zeit vergehen. Zu uns in das AWO-Frauenhaus kommen oft Frauen, die niemanden haben, weder Angehörige noch Freunde, die ihnen in ihrer Lage zur Seite stehen. Sie alle haben einen langen Leidensweg hinter sich. Alle sind Opfer von häuslicher Gewalt, einige haben nicht durch ihren Ehepartner, sondern in der Familie Gewalt erlebt. Ihnen bieten wir den nötigen Schutz, damit sie zur Ruhe kommen, ihre Würde und ihre eigenen Stärken wieder entdecken und damit sie befähigt werden, ein eigenständiges Leben führen zu können.
Oberste Priorität meiner Arbeit ist es, dass sich die Frauen bei uns vollumfänglich sicher und wohlfühlen können, auch wenn es nur für eine begrenzte Zeit ist. Derzeit sind wir das größte Frauenhaus in NRW und bieten Platz für 23 Frauen und 16 Kinder. Leider sind wir seit Jahren immer sehr schnell voll belegt. Die Frauenhausplätze in Deutschland reichen nicht aus, es werden dringend weitere benötigt. Ich glaube aber nicht, dass die Gewalt zunimmt, der Mangel liegt eher daran, dass unsere Gesellschaft insgesamt wächst. Und ich möchte betonen: Gewalt kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor. Die betroffenen Frauen aus einer eher gehobenen sozialen Schicht kommen jedoch selten zu uns.
Karin Boye Toledo: „Kinder leiden am meisten“
Was betroffen macht ist, dass wir in jüngster Zeit vermehrt junge Frauen aufgenommen haben, die von ihren Eltern misshandelt wurden. Dazu gehören u. a. lernbehinderte Frauen, eine gehörlose Frau und eine Transfrau. Sie alle wurden ihr Leben lang geschlagen. Gewalt in der Familie zu erleben ist besonders schrecklich. Den Partner kann man wechseln, es ist aber viel schmerzvoller, sich von einer Familie zu trennen. Und dann erleben wir die Kinder. Sie leiden am meisten. Sie haben alles miterlebt und nicht selbst die Entscheidung getroffen, hierher zu kommen. Sie vermissen ihren Vater und ihre Freunde. Sie zu entlasten ist uns besonders wichtig. Ein Kind muss in Ruhe spielen können, ohne ständig auf die Mutter zu schauen, ob sie traurig ist oder weint.
Auch wenn ich täglich mit erlebter Gewalt konfrontiert bin, so glaube ich dennoch an das Gute im Menschen. Ich schaue auf die Täter, doch zum Glück stellen diese nur einen kleinen Teil unserer Gesellschaft dar. Und ich werde in meinem Beruf immer wieder dadurch gestärkt, wenn wir den Frauen, die ihr Leben ändern wollen, konkret helfen können. Es macht mir viel Hoffnung, wenn ich sehe, wie eine physisch oder psychisch geschlagene Frau wieder aufblüht und ihre Kräfte zurückgewinnt.
Seit 21 Jahren leite ich nun das Frauenhaus. Hier habe ich meinen Platz gefunden. Hier möchte ich nicht mehr weg. Wozu bin ich also da? Ich möchte, dass die Frauen, die zu uns kommen, ihre Stärke zurückfinden. Ich möchte sie dazu ermächtigen, dass sie eigenständig in einem gewaltfreien Umfeld leben können. Ich möchte sie daran erinnern, dass sie es würdig sind, gut behandelt zu werden und dass sie ihre eigene Würde haben.
Zur Person
Karin Boye Toledo (54) ist Diplom-Sozialarbeiterin und leitet seit 21 Jahren das AWO-Frauenhaus in Bielefeld. Sie stammt gebürtig aus Chile, lebt seit 46 Jahren in Deutschland und hat zwei Kinder. Auch kirchlich ist sie sehr engagiert – in der kfd, in der Gemeinde und auch im Chor.
Aufgezeichnet und fotografiert von Patrick Kleibold
Unsere Reihe Menschen im Erzbistum
Wozu bist du da, Kirche von Paderborn? Diese Frage stellte der emeritierte Paderborner Erzbischof Hans-Josef Becker dem Zukunftsbild voran, auf dessen Basis das Erzbistum entwickelt wird. Wozu bist du da? Diese Frage kann sich auch jeder Einzelne stellen. Denn die Grundannahme des Zukunftsbildes ist eine biblische, dass nämlich jeder Mensch berufen ist, dass jede und jeder das eigene Leben als von Gott angenommen betrachten darf, dass es einen Sinn dieses Lebens gibt. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, die Frage für sich zu beantworten.