Zugang zur Geschichte schaffen
Auf der Gedenkstättenfahrt nach Tschechien haben die Teilnehmer den Nationalfriedhof vor der kleinen Festung Theresienstadt besucht. (Foto: Schnittger)
Der BDKJ-Diözesanverband Paderborn bietet Gedenkstättenfahrten an, um sich mit der NS-Gewaltherrschaft auseinanderzusetzen und daran zu erinnern, dass so etwas nie wieder passieren darf. Einen weiteren Zugang zur Geschichte soll durch neue Medien möglich werden.
Paderborn (HEL). Setzt man die weiße VR-Brille auf, steht man plötzlich in einem Hinterhaus in Amsterdam. Und sobald man sich in einem Raum mit einer Treppe auf der einen Seite und einem Bücherschrank auf der anderen befindet, lässt sich auch schon erahnen, um welches Haus es sich hierbei handelt. Eine weiße Hand am Bücherschrank signalisiert, dass er sich öffnen lässt. Dahinter kommt eine Diele zum Vorschein. Klickt man auf die Anführungszeichen an der Wand des Versteckes, hört man plötzlich eine weibliche Stimme, die einen Auszug aus dem Tagebuch der Anne Frank vorliest.
Mit dem virtuellen Gang durch das Anne-Frank-Haus möchte der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) die Zeit des Nationalsozialismus Schülern und anderen Interessierten näherbringen. „Mit dem Medium versuchen wir ansprechender zu sein als beispielsweise ein Schulbuch“, erklärt Nico Schnittger, pädagogischer Leiter und zuständig für die „Kooperation Jugend(verbands)arbeit und Schule“. Neben der virtuellen Tour durch das Anne-Frank-Haus soll es in Zukunft weitere digitale Angebote geben, um sich mit der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. „So etwas ersetzt aber nie eine Fahrt zu Gedenkstätten“, macht Schnittger deutlich.
Politische Lage erhöht Stellenwert
Seit insgesamt zehn Jahren bietet der BDKJ solche Gedenkstättenfahrten an. „Für uns ist das eine Möglichkeit, junge Menschen an Orte zu bringen, die sie so in ihrer Schulzeit vielleicht nie erleben werden oder erlebt haben“, erklärt Schnittger. Die Fahrten richten sich an Jugendliche zwischen 16 und 26 Jahren. Und die aktuelle politische Lage mit der zunehmenden Rechtsradikalisierung gebe dem Angebot noch einen höheren Stellenwert: „Gerade in diesen Zeiten haben Gedenkstättenfahrten eine ganz große Bedeutung“
So eine Fahrt dauert in der Regel fünf Tage, die letzte fand im Mai statt. „Wegen des Ukraine-Kriegs sind wir in diesem Jahr nicht nach Polen, sondern nach Tschechien gefahren“, erklärt der pädagogische Leiter. In Prag haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einer Stadtführung teilgenommen, sich mit der jüdischen Kultur auseinandergesetzt und Tagesreisen in das KZ Theresienstadt und nach Lidice gemacht. Dort fand im Jahr 1942 ein Massaker durch die deutschen Besatzer statt, bei dem das Dorf dem Erdboden gleichgemacht wurde. 173 Männer wurden ermordet, die meisten Frauen und Kinder deportiert. „Wenn es noch geht, wollen wir auch Gespräche mit Zeitzeugen anbieten“, so Schnittger, „meistens ist es jedoch schon die zweite oder dritte Generation, mit der wir sprechen.“
Den Zugang zur Geschichte versuchen die Begleiter der Fahrten auf unterschiedlichste Arten zu ermöglichen. Von Liedern, über Bilder und Geschichten bis zu den Orten an sich ist alles dabei. „Wir können nicht sagen: Schaut euch das jetzt an und das muss euch betroffen machen“, erklärt der Mann mit der Brille.
Angst vor Wiederholung
Neugierde, Wut, Spaß, Angst, Trauer oder Aggression – diese Gefühle durchleben die Jugendlichen während der Fahrten. „Unter den Teilnehmenden bekommen wir häufig die Angst mit, dass so etwas nochmal passiert“, erzählt Schnittger. Er berichtet von einem riesigen Buch in einem alten Gebäude in Ausschwitz, in dem die Namen derjenigen verzeichnet sind, die umgebracht wurden. Die Jugendlichen bekommen dann die Möglichkeit, nach ihren Familiennamen zu suchen. „Wenn sie dann ihren eigenen Nachnamen entdecken, berührt sie das total“, erzählt er, „wenn sie vorher noch aufgekratzt waren, dann werden sie still, manche fangen auch an zu weinen.“ Und manchmal gehe es auch gar nicht um eine spezielle Situation, sondern um das Ganze. „An diesem Ort zu stehen, wo Millionen von Menschen ermordet wurden, das ist bedrückend“, versucht Schnittger die Atmosphäre zu beschreiben. Seit zehn Jahren nimmt er regelmäßig an den Gedenkstättenfahrten teil, „abgehärtet“ sei er nicht.
Das Angebot ist freiwillig und die Nachfrage ist manchmal so groß, dass der BDKJ für die Anmeldung ein Motivationsschreiben verlangt. Schnittger betont, dass diese Fahrten keine Pflichtveranstaltung sind, aber er findet auch, jeder solle die Möglichkeit zur Teilnahme bekommen. „Es gibt Schulen, die haben das in ihrem Programm mit drin. Es gibt aber auch andere, bei denen das kein Thema ist“. So eine Fahrt sei nämlich auch immer mit viel Aufwand und Kosten verbunden. Das Land stelle aber Zuschüsse zur Verfügung.
Doch die Fahrten erreichen nicht jeden. „Deswegen möchten wir ein Projekt initiieren, bei dem wir in Schulen und Jugendgruppen kommen“, berichtet Schnittger, „es kommt jetzt diese Zeit ohne Zeugen“.
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