Zwischen Gottesdienst und Folklore – Stephan Wahle im Gespräch

Schrein, Weihrauch, großes Gefolge. Zu Libori entfaltet die Liturgie im Hohen Dom ihre ganze Pracht. Ein katholisches Schauspiel, das irgendwie aus der Zeit gefallen scheint und doch seinesgleichen sucht. (Foto: Patrick Kleibold)

Schrein, Weihrauch, großes Gefolge. Zu Libori entfaltet die Liturgie im Hohen Dom ihre ganze Pracht. Ein katholisches Schauspiel, das irgendwie aus der Zeit gefallen scheint und doch seinesgleichen sucht. Was geschieht da eigentlich? Ein Gespräch mit dem Liturgiewissenschaftler Stephan Wahle.

Herr Prof. Wahle, vielen Menschen läuft ein Schauer über den Rücken, wenn zu Libori der Tusch erklingt. Ihnen auch?

Stephan Wahle: „Ihn zu hören, ist etwas ganz Besonderes. Das rührt einen an, irgendwie wird da auch der Kopf ausgeschaltet. So funktioniert Liturgie: Sie ist sinnlich und nicht nur etwas Kognitives. Sie will auch die Resonanz des Herzens und das wird in diesem Moment des Tusches zu einem Höhepunkt geführt.“

Ist die Erhebung der Reliquien strenggenommen Liturgie oder doch eher eine große Aufführung vor einem gerührten Pu­blikum?

Stephan Wahle: „Mit Blick auf das Libori-­Fest könnte man natürlich leichthin sagen: Na ja, das ist Folk­lore, das ist Volksfrömmigkeit. Aber ich favorisiere einen weiten Liturgiebegriff und möchte den nicht zu eng führen auf die Hochliturgie oder die Eucharistie. Andererseits haben Sie ein bisschen Recht. Die Grenzen zwischen Gottesdienst und Folk­lore schwimmen schon lange.“

Vermutlich nicht nur zu Libori.

Stephan Wahle: „Nein, auch bei anderen Prozessionen kann man das sehen. Bei einer Fronleichnams­prozession durch die Kölner Innenstadt, bei der der Klerus die ganz kostbaren Gewänder trägt und die meisten Menschen mit Kameras an der Seite stehen, kann man auch fragen: Was geschieht hier eigentlich? So etwas hat man allerdings in früheren Jahrhunderten auch erlebt. Es gibt Berichte aus dem Bistum Paderborn, wo viele ein solches Spektakel als Zuschauer verfolgen und entweder zu Tränen gerührt werden oder dem Ganzen etwas unverstanden folgen. Das ist kein modernes Phänomen. Was sich verändert hat, konnte man jüngst bei der ­Aachener Heiligtumsfahrt beobachten: Früher war der Moment, in dem man die Reliquien zu sehen bekam, eine Art geistliche Kommunion, ein sehr ­ehrfürchtiger Augenblick. Heute wird er gefilmt und im Handy ­festgehalten. Und zwar von Wallfahrern genauso wie von Touristen.“

Das kann man bei Libori auch beobachten. Ist es ein Pro­blem für die Zelebranten, dass die Leute womöglich vor allem im Dom sind, um den Schrein zu sehen und zu fotografieren, und ­weniger, um die Liturgie mitzufeiern?

Stephan Wahle: „Nein, das ist kein Problem, sondern vielleicht sogar die Idealgestalt von Kirche: Menschen, die aus verschiedenen Milieus zusammenkommen mit unterschiedlichen Voraussetzungen, auch, was ihren Glauben betrifft. Die Menschen entscheiden selbst über Distanz und Nähe – nicht die Kirchenleitung. Es ist genial, dass es solche Zeiten und Orte gibt und dass die Kirche sich darauf einlässt, dass sie sich zur Verfügung stellt und keine Kriterien formuliert, wer hereindarf und wer nicht.“

Stephan Wahle im Gespräch

Was ist aus Ihrer Sicht eine gute Liturgie?

Stephan Wahle: „Eine gute Liturgie vollzieht sich immer in einer Spannung zwischen Erinnerung und Gegenwart. Zum einen wird sie auf der Basis der biblischen Überlieferung gefeiert. Das Christentum ist eine Erzählgemeinschaft, die wachhält, was die Auferstehungszeugen von Jesus erzählt haben: Er ist nicht tot, sondern lebt weiter in die Zeit hinein. Zum anderen gibt es die Lebenswelt der heutigen Menschen, die mit ihren eigenen Erzählungen, Erfahrungen, ihren Sehnsüchten dazukommen. Eine gute Liturgie ist es dann, wenn diese beiden Pole zueinanderkommen, nicht in einem Deckungsverhältnis, sondern wenn sie sich reiben dürfen; wenn etwas Neues entsteht, wenn die Liturgie quasi zu einem dritten Raum wird zwischen Tradition und Lebenswelt; wenn in einem günstigen Moment etwas entsteht, das man vielleicht ­geistige Erfahrung nennen könnte, etwas, das das Leben irgendwie ganz oder stimmig macht, wenn Menschen im Gottesdienst ­etwas erfahren, das zu ihrem ­Leben passt und es zusammenfügt. Das ist vielleicht das Wirken des Geistes, was man nicht machen kann, sondern das muss sich ­ereignen, weil es unverfügbar ist.“

Wie oft erleben Sie so etwas?

Stephan Wahle: „So etwas erlebt man nicht immer, das ist klar! Und wenn man mit der Erwartung zum Gottesdienst kommt, funktioniert das sowieso nicht. Es sind einzelne besondere Erlebnisse, die man mal hat. Aber die Liturgie lebt auch davon, dass man sich immer wieder neu einlässt auf die Möglichkeit, dass es sich ereignen könnte. Daher braucht es eine gewisse Regelmäßigkeit, auch einen gewissen Bildungsprozess. Und jeder weiß ja selbst, dass man nicht an jedem Tag gleichermaßen aufmerksam ist. Dann kann sich so was nicht ereignen, aber vielleicht am nächsten Sonntag.“

Die Gottesdienstbesucherzahlen besagen aber, dass Leute das im Gottesdienst nicht mehr finden und auch nicht mehr suchen.

Stephan Wahle: „Dass sie es nicht suchen, glaube ich nicht. Sie suchen es vielleicht auf eine andere Art und Weise und anderswo. Aber ich stimme Ihnen zu, dass sie es nicht finden, dass es sich kaum noch ereignet. Man müsste näher nach den Gründen fragen. Vielleicht, weil die normale Liturgie sich gerade in einem Kontext befindet, der das nicht zulässt. Unsere Gottesdienste werden ja derzeit in einem gesellschaftlichen, kirchenpolitischen Kontext gefeiert, der belastet – ohne, dass die Zelebranten das wollen. Wir haben eine so schwierige Situation, dass dieses heilige Spiel gar nicht mehr in dieser Freiheit, in der Unverfügbarkeit, in der Selbstverständlichkeit gefeiert werden kann – wie es wünschenswert wäre.“

Das wäre doch Aufgabe des „Anbieters“, da etwas zu ändern, oder?

Stephan Wahle: „Ja, natürlich, es bleibt immer die Aufgabe aller Verantwortlichen, sich um eine gute Liturgie zu bemühen. Durch die Liturgiereform ist die Liturgie anspruchsvoller geworden, auch die Menschen sind anspruchsvoller geworden, das ist aber nichts Schlechtes.“

Der Anspruch an die Liturgie ist kirchlicherseits sehr hoch. Sie soll „Quelle und Höhepunkt allen kirchlichen Handelns“ sein. Müsste man sich davon nicht ehrlicherweise verabschieden?

Stephan Wahle: „Nein. Ohne eine gottesdienstliche Versammlung, ohne, dass Menschen zum Gebet zusammenkommen, ohne die Verkündigung des Evangeliums und ohne die Feier der Sakramente kann es Kirche nicht geben. Dann wäre sie nur noch eine moralische oder soziale Instanz, eine Bildungsanstalt, aber da verfehlte sie den eigenen Anspruch. Quelle und Höhepunkt meint ja, dass man immer wieder speisen kann aus dem, was einem übertragen worden ist, was nicht gemacht werden kann. Die Liturgie ist die innerste DNA für alle Aktivitäten der Kirche – selbst, wenn immer weniger daran teilnehmen, bleibt es die Keimzelle allen anderen Tuns.“

Kirche verändert sich ­massiv, Sie befassen sich auch mit ­Liturgie in Transformationsprozessen. ­Worum geht es da konkret?

Stephan Wahle: „Zum Beispiel um die Kirchenräume: Viele, vor allem in den Ballungsräumen, sind in der Nachkriegszeit entstanden, als es noch galt, dass jede Gemeinde einen Kirchenraum haben soll. Das funktioniert heute so nicht mehr. Was machen wir nun? Was ist an Weiternutzung denkbar? Der Abriss ist die ­Ultima ­Ratio, davor gibt es viele Möglichkeiten. Kirchen können ökumenisch, interreligiös genutzt werden oder Orte für die gesamte Gesellschaft sein. Ein anderer Punkt: Die ­Gestaltung unserer Feste ändert sich – Weihnachten, Ostern, auch der Sonntag. Wie kann er zu einem Moment der Muße werden, an dem wir aus Produktivitäts- und Leistungsdenken herausfinden? Denn am Sonntag kann man Zeit verschwenden. Auch darüber denken wir in der Liturgiewissenschaft nach. Und natürlich über die Lebenswendefeiern, die Sakramente. Sie stehen unter einer großen ­Transformation: Wie feiert man heute ­Taufe? Was ist mit der Firmung, mit kirchlichen Trauungen? Da gibt es deutliche ­Veränderungen in der Gesellschaft. Was kann Kirche da anbieten und wo hat sie ihre Grenzen? Und natürlich: Wie kann man in Zukunft noch Eucharistie feiern?“

Nehmen Sie im Erzbistum so etwas wie liturgische Kreativität wahr, also etwa Initiativen in Gemeinden, an anderen Orten oder zu anderen Zeiten Gottesdienst zu feiern?

Stephan Wahle: „Es gibt wunderbare Projekte! Ich wohne in der Nähe der Bildungsstätte St. Bonifatius in Elkeringhausen, wo es seit vielen Jahren die Zeltkirche gibt, einen echten Seelenort. Die Menschen brennen immer darauf, dass an Ostern die Zeltkirchensaison wieder beginnt. Auch im Bereich der Kirchenmusik gibt es viele Dinge, die das Erzbistum geschaffen hat. Da würde ich mir noch mehr wünschen, denn gerade über Musik kann man Menschen ­ansprechen. Eine Bachkantate stellt für mich durchaus eine Art Liturgie dar, auch wenn sie nicht in einem Gottesdienst erklingt. Aber eine Bachkantate ist nicht so einfach, da bedarf es schon einer gewissen Professionalität.“

Ist Liturgie nur etwas für Profis?

Stephan Wahle: „Nein! Liturgie lebt eigentlich davon, dass sie gemeinschaftlich vorbereitet wird, dass sich immer neue kleine Gruppen aus Haupt- und Ehrenamtlichen zusammensetzen, die den Gottesdienst mittragen. Das Idealbild ist ja, dass die Liturgie von der ganzen Gemeinde getragen wird und doch auch offen ist für die vielen, die nur einen punktuellen Kontakt suchen.“

Ein Teil der Gemeinde sitzt seit Corona vorm Bildschirm. Auch zu Libori wird das so sein. Kann man gültig vom Sofa aus mit­feiern?

Stephan Wahle: „Die Frage stellt sich seit der Erfindung der Radiogottesdienste. Die Antwort lautet: Ja, wenn man intentional und zeitgleich dabei ist. Inzwischen haben sich der analoge und der digitale Raum so sehr verschränkt, dass man beide Räume gar nicht mehr sauber trennen kann. Daher würde ich sagen: Man nimmt nicht nur gültig, sondern voll und ganz am liturgischen Geschehen teil. Aber natürlich nicht, wenn während des Frühstücks im Hintergrund der Fernseher mit dem Gottesdienst läuft. Man sollte sich schon die Zeit nehmen und den Raum ganz klar darauf ausrichten, dass man jetzt Gottesdienst feiert. Dann tut man es auch. Wichtig ist, dass man auch von der anderen Seite als Teil der Gemeinde angesprochen wird und spürt, dass man dazugehört.“

Wie gehen Sie eigentlich sonntags zum Gottesdienst oder anders gefragt: Muss sich der Zelebrant fürchten, wenn Sie in der Bank sitzen?

Stephan Wahle: „Nein, auf gar keinen Fall. Allerdings gebe ich zu, dass mir manchmal der Gedanke kommt: Mmh, das könnte man auch anders machen. Oder: Das ist theologisch nicht ganz stimmig. Ich würde aber nie aufstehen und mich zu Wort melden, sondern ich lasse mich auf das Feiergeschehen ein und versuche, ein Gemeindemitglied zu sein, wie alle anderen auch. Für den Zelebranten sollte übrigens jeder Anwesende eine Herausforderung sein, nicht nur ein Studierter.“

Mit Prof. Wahle sprach ­Claudia Auffenberg

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Prof. Dr. Stephan Wahle lehrt seit dem Wintersemester 2022/­2023 Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät in Paderborn. Foto: Fakultät

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