Christliche Pflicht oder überschreiten von Gesetzen?
Die Migrationspolitik ist ein zentrales Thema der öffentlichen und politischen Diskussion. Die Kirchenasyle für Flüchtlinge muten in der aktuellen Situation wie eine Provokation an.
Warum dürfen Kirchen gegen geltende Gesetze Flüchtlingen Schutz in ihren Räumen bieten, während Politiker unisono mehr Abschiebungen verlangen?
Ende April verließen Kurdwin Youssif und Ahmed Haji Saeed ihre Wohnung und flüchteten sich in einer Paderborner Kirchengemeinde in das Kirchenasyl. Ihre Abschiebung habe unmittelbar bevorgestanden, teilte der Flüchtlingsrat in Paderborn mit.
Der Fall war umstritten. Die Härtefallkommission des Landes NRW hatte die Ausländerbehörde ersucht, dem Ehepaar Aufenthalt zu gewähren. Selbst das Verwaltungsgericht Minden habe die Paderborner Behörde zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verpflichtet, teilte der Flüchtlingsrat mit. Doch das alles hätte die drohende Abschiebung nicht verhindern können. Das konnte nur noch das Kirchenasyl.
Kirchenasyl als Ultima Ratio
Beim Kirchenasyl nehmen Kirchengemeinden und Ordensgemeinschaften von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge vorübergehend in ihren kirchlichen Räumen auf. Das Kirchenasyl ist ein streng geregeltes Verfahren, um im Einzelfall Hilfe für Menschen in Not zu leisten. Das gilt, wenn bei Rück- oder Abschiebung Gefahren für Leib und Leben drohen oder in Härtefällen noch nicht alle rechtlichen Möglichkeiten für eine Aufenthaltsperspektive ausgeschöpft sind.
Als „Ultima Ratio“, nur als letzte Möglichkeit also, kann mit dem Kirchenasyl ein geschützter und von den staatlichen Stellen respektierter Raum geschaffen werden. Eine Grundregel dabei ist die Transparenz gegenüber dem Staat. Innerhalb weniger Tage muss die Kirchengemeinde dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein Dossier über den Fall vorlegen. Nur dann gelten Menschen im Kirchenasyl nicht als „untergetaucht“.
Fast immer geht es beim Kirchenasyl um drohende Ab- oder Rückschiebungen in Länder der Europäischen Union, die der Dublin-Vereinbarung zugestimmt haben. Auch das kurdische Ehepaar in Paderborn sollte in das EU- und Dublin-Land Polen zurückgebracht werden, weil es dort zuerst einen Asylantrag gestellt hatte und dann erst nach Deutschland weitergereist war.
Deutschland kann ein Ersuchen an das Ersteinreiseland stellen, die betreffenden Flüchtlinge zurückzunehmen. Stimmt der betreffende Staat dem Rücknahmeersuchen zu, muss die Rückführung innerhalb von sechs Monaten erfolgen. Nach dieser Frist gilt das deutsche Asylrecht. Wenn das Kirchenasyl länger als ein halbes Jahr dauert, ist der Abschiebungsbescheid wirkungslos geworden.
116 Kirchenasyle seit 2015
Die Zahl der Kirchenasyle in NRW ist überschaubar. Seit 2015 wurden nach Auskunft des Paderborner Generalvikariats im Erzbistum Paderborn 116 Kirchenasyle in katholischen Kirchengemeinden oder Ordensgemeinschaften gewährt. Im vergangenen Jahr endeten in NRW 230 Kirchenasyle erfolgreich im Sinne der Hilfesuchenden. Ende 2023 bestanden in Nordrhein-Westfalen noch 147 Kirchenasyle für 168 Menschen – die meisten davon in evangelischen Kirchengemeinden.
Wenn eine katholische Institution im Erzbistum Paderborn Menschen ins Kirchenasyl aufnimmt, soll sie sich schon während der Planung an die Ansprechpartner im Generalvikariat melden. Darauf verweist die Pressestelle des Erzbistums. Auf Landesebene ist das von den beiden großen christlichen Kirchen finanzierte „Ökumenische Netzwerk Asyl in NRW e. V.“ Ansprechpartner. Das Netzwerk hat zwei Anlaufstellen in Münster und Köln eingerichtet.
Zu 99 Prozent erfolgreich
Einer der Mitarbeiter im Ökumenischen Netzwerk Asyl ist Dr. Jan Niklas Collet. Er arbeitet in der Kölner Beratungsstelle. „Die Verzweiflung und Angst sind groß“, sagt er über seine Klientel. „In Bulgarien, Rumänien, Griechenland, Polen oder Lettland leben Flüchtlinge unter erbärmlichen Bedingungen. Sie erleben Pushbacks, werden also nach dem Aufgriff zurück über die Grenze gebracht. Viele leiden unter Krankheiten.“
Das Netzwerk unterstützt bei der Vorbereitung und der Durchführung bis zur Beendigung des Kirchenasyls. Trotz Personalengpässen und Finanzierungsschwierigkeiten sind die beiden NRW-Beratungsstellen erfolgreich. 99 Prozent ihrer Fälle gehen positiv aus.
2021 haben die beiden großen christlichen Kirchen mit dem Staat über ein Verfahren in Kirchenasylfällen vereinbart. Doch das Verhältnis zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sei nicht gut, meint Jan Niklas Collet. Auf die Kirchenasyldossiers, die an das Bundesamt weitergegeben werden müssen, gebe es fast nie Antwort. Ohnehin ist das Verfahren zweifelhaft, weil die Dossiers vom BAMF beurteilt werden – und damit von derselben Behörde, die die Abschiebung angeordnet hat.
Kein Sonderrecht für Kirchen
Das Kirchenasyl lebt vom Engagement von Ehrenamtlichen in der Kirche. Kirchengemeinden und Ordensgemeinschaften müssen nicht nur für geeignete Räume sorgen, sondern sie übernehmen auch die Kosten für Verpflegung, Unterkunft und sonstige Bedarfe des täglichen Lebens. Die Menschen im Kirchenasyl brauchen Zeit und Aufmerksamkeit: Gespräche, Deutschkurse oder die Unterbringung von Kindern. Die aktiven Unterstützer des Kirchenasyls sind auch juristisch verantwortlich.
Kirchengemeinden und Klöster beanspruchen anders als im Mittelalter keinen rechtsfreien Raum mehr für sich. Es gibt kein Sonderrecht. Deshalb stellt das Kirchenasyl eine Einmischung in den staatlichen Abschiebungsprozess dar, eine geduldete Gesetzesüberschreitung. Der Staat nimmt das hin, weil er bei Kirchen und ihren Mitgliedern einen besonderen Einsatz für die Nächstenliebe und die Menschenwürde voraussetzt.
Letztlich ist das Kirchenasyl eine Form des zivilen Ungehorsams. Immerhin werde die demokratische „Legalität des Mehrheitsprinzips“ mit dem Kirchenasyl infrage gestellt, schreibt die Autorin Susanne Traulsen in ihrem Buch „Kirchenasyl“. Möglich sei das nur, weil die Kirchen, wie im katholischen Katechismus beschrieben, von einer christlichen „Gewissenspflicht“ ausgehen, den Vorschriften des Staates nicht zu folgen, wenn diese den „Forderungen der sittlichen Ordnung, den Grundrechten des Menschen oder den Weisungen des Evangeliums widersprechen“.
Der Staat ist aber nur zur Duldung bereit, wenn enge Vorgaben gelten. Deshalb die Betonung, es müsse sich um Einzelfallentscheidungen und Härtefälle handeln. Nur dann unterstellt der Staat eine individuelle Gewissensentscheidung. Die innere Motivation ist ausschlaggebend.
Der Druck steigt
Stefan Keßler ist Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes (JRS) in Deutschland. In vielen Kirchengemeinden bestehe trotz der vielen Widerstände immer noch eine große Bereitschaft, sich für Flüchtlinge einzusetzen, sagt er. Es sei ihm bewusst, dass die Aufnahme von Asylsuchenden in Kirchen im Kirchenvolk nicht unumstritten ist. Aber gerade die Kirchen seien aufgerufen zur Gestaltung einer guten Gemeinschaft. „Kirche muss sich politisch engagieren.“ Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter mache es geradezu zur „Christenpflicht“, einem Menschen in Not beizustehen. „Diese Verantwortung kann ich nicht einfach auf den Staat abschieben.“
Noch bemerken die Mitarbeitenden im Ökumenischen Netzwerk Kirchenasyl keine Folgen der verschärften öffentlichen und politischen Asyldiskussion. „Aber wir spüren bereits den Druck und wir sorgen uns, dass der aller Aussicht nach in der nächsten Zeit weiter steigen wird“, sagt Jan Niklas Collet. Im Juli brach die Ausländerbehörde in Viersen unangemeldet ein Kirchenasyl der evangelischen Kirche und nahm ein Ehepaar (letztlich erfolglos) in Abschiebehaft. Ein Umgang mit dem Kirchenasyl, der bislang beispiellos ist.
Ende offen
Der Fall von Kurdwin Youssif und Ahmed Haji Saeed in Paderborn ist noch nicht ausgestanden. Im Mai verließen sie das Kirchenasyl nach einem Termin beim Land NRW. Der Petitionsausschuss des Landes hatte eine erneute Empfehlung an die Ausländerbehörde ausgesprochen, die Abschiebung auszusetzen. Daraufhin sagte die Ausländerbehörde zu, den Aufenthalt des Ehepaares so lange zu dulden, bis das Oberverwaltungsgericht Münster eine Entscheidung gefällt hat. Diese steht noch aus.
/ Karl-Martin Flüter