Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Das Licht göttlichen Glanzes

Der Liborischrein ist das bedeutendste Kunstwerk im Paderborner Domschatz. Während des Liborifestes zieht er alle Blicke auf sich. Doch während der feierlichen Gottesdienste und der Prozessionen bleibt er einer eingehenden Betrachtungsmöglichkeit entzogen.

Paderborn
Text: Hans Jürgen Rade / Fotos: Patrick Kleibold

In der Regel verlässt er zweimal im Jahr das Erzbischöfliche Diözesanmuseum, in dem er ganzjährig bestaunt werden kann, um im Hohen Dom die Reliquien des heiligen Liborius aufzunehmen. Seit 1917 werden sie in einer Ebenholztruhe im Altar der Domkrypta aufbewahrt. Jeweils zum Liborifest Ende Juli und am Fest der Rückführung seiner Reliquien Ende Oktober (Klein-Libori) wird der Ebenholzkasten in der Krypta in den vergoldeten Schrein eingesetzt und dieser dann in feierlicher Prozession in den Hochchor des Hohen Domes geleitet. Auf dem Weg ertönt dreimal der Libori-Tusch, dessen Tonfolge dem Paulus-Oratorium von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) entnommen ist. Otto Gerke (1807-1878), Dirigent des Paderborner Musikvereins, hatte 1836 in Düsseldorf an der Uraufführung des Paulus-Oratoriums teilgenommen und entwickelte die Tonfolge zum berührenden Libori-Tusch.

Von Le Mans nach Paderborn

Liborius wirkte im 4. Jahrhundert – einer Missionszeit – als Bischof von Le Mans. Es war ein Zeitgenosse und Freund des heiligen Bischofs Martin von Tours, der ihn an seinem Sterbebett besuchte. 836 kamen die sterblichen Überreste von Liborius nach Paderborn, um im jungen Missionsbistum Paderborn die Ausbreitung des Evangeli- ums zu befördern. Bis heute verbindet Le Mans und Paderborn der damals geschlossene „Liebesbund ewiger Bruderschaft“. Bereits in den frühen Berichten über sein Leben und die Überführung seiner Reliquien wird dem heiligen Liborius ein breites Spektrum an Heilungswundern zugeschrieben. In Anknüpfung an die biblische Heilsverheißung (Lk 7,22) wurden durch seine Fürsprache Blinde, Taube und Gelähmte geheilt. Ab dem 13. Jahrhundert gibt es vermehrt Berichte, die ihm die Heilung von Stein- leiden zuschreiben. Seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts sind Steine auf einem Buch, das Liborius in seiner linken Hand hält, ein beständiges Erkennungsmerkmal des Heiligen. Seit 1853 wird er in Darstellungen häufig auch von einem Pfau begleitet, da gemäß einer seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts belegten Tradition ein Pfau dem Translationszug von Le Mans nach Paderborn vorausflog. Im 11. Jahr- hundert stiftete Bischof Imad (1051-1076) Gold für einen neuen Schrein. Eine Urkunde von 1622 berichtet, dass an dessen Längsseiten– wie beim jetzigen – Apostelstatuetten standen.

Der Raub der Reliquien und des Schreins 1622

1622 wurde der mittelalterliche vergoldete Silberschrein des heiligen Liborius durch den pro- testantischen Heerführer Herzog Christian von Braunschweig-Lüneburg, der von Zeitgenossen der tolle Christian genannt wurde, geraubt. Das Adjektiv „toll“ war damals gleichbedeutend mit verrückt und tollwütig. Am 31. Januar 1622 traf der erst 22-Jährige mit seiner Soldateska in Paderborn ein. Noch am selben Abend ließ er seine Soldaten insbesondere im Dom nach Schätzen suchen. Dabei fiel ihnen auch der Schrein des heiligen Liborius in die Hände.

Christian von Braunschweig ließ ihn nach Lippstadt überführen und dort mit anderen geraubten Gegenständen einschmelzen. Er befahl, aus dem gewonnenen Silber zum Zweck der Selbstdarstellung als protestantisch-antikatholischer Gotteskämpfer die nach ihrer Aufschrift genannten Pfaffenfeindtaler zu prägen. Zwei Originale dieser Taler sind auf der Stirnseite des jetzigen Schreins zu Füßen der Kreuzigungs- gruppe angebracht. Sie schlagen eine Verbindungsbrücke zwischen dem mittelalterlichen und dem jetzigen Schrein.

Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Die Übergabe der Reliquien an den Rheingrafen Philipp Otto zu Salm

Schmerzlich wog der Verlust des kostbaren Schreins, noch schmerzlicher aber der Verlust seines alles entscheidenden Inhalts. Christian von Braunschweig wusste als gewiefter Kriegsstratege, dass die Reliquien aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung zusätzlich gewinn- bringend sein konnten. Deswegen führte er die Libori-Reliquien auf seinen weiteren Feldzügen in einer Kiste, die sein Gebrauchssilber barg, mit sich. Am 14. August 1622 begegnete er dem katholischen Wild- und Rheingrafen Philipp Otto zu Salm-Neuviller (1575-1634), der ihn um die Reliquien und um eine Bestätigung ihrer Echtheit bat. Herzog Christian war nach einigem Zaudern bereit, sie dem Grafen auszuhändigen. Der Rheingraf ließ sie seiner Frau, der Herzogin Christine von Croy-Havré (1580- 1664), die im südlich von Nancy gelegenen Schloss in der gleichnamigen Gemeinde Neuviller-sur-Moselle wohnte, überbringen.

In einer Urkunde bestätigte Christian von Braunschweig der Rheingräfin, dass die Reli- quien dieselben seien, die er in der Kathedralkirche von Paderborn aufgefunden habe. Über seine Brüsseler Gesandten erfuhr der Kölner Kurfürst und Paderborner Bischof Ferdinand von Bayern, dass die Reliquien in die Hände der Rheingräfin gelangt waren und sie bereit war, diese nach Paderborn zurückzugeben. Der Kurfürst entsandte seinen Hofkaplan Johannes de Blies aus Bonn und Johann Carl Erlenwein (1595-1667) aus Uerdingen nach Neuviller, um die Reliquien abzuholen. Am 8. Juni 1623 wurden sie in ihrer Gegenwart in Neuviller dem schwarzen Leinentischtuch entnommen, in dem der Rheingraf sie erhalten hatte, und in eine kleine, rechteckige Holzlade gelegt, die die Herzogin von Croy mit ihrem Siegel verschloss. Eine kleine Reliquie verblieb in der Schlosskapelle von Neuviller. Danach wurde die Lade mit den Reliquien an die kurfürstlichen Gesandten übergeben. Diese brachten sie am 15. Juni 1623 ins Brigittinnen-Kloster Marienforst bei Bonn, wo sie bis 1627 verblieben.

Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Die Rückkehr der Reliquien nach Paderborn 1627

Am 12. Januar 1627 sandte Dompropst Arnold von der Horst den Domdechanten und nachmaligen Paderborner Fürstbischof Dietrich Adolph von der Recke mit dem Paderborner Landdrost Wilhelm von Westphalen nach Bonn, um die Reliquien aus Marienforst abzuholen und zunächst in das fürstbischöfliche Residenzschloss Neuhaus zu überführen. Im März 1627 trafen sie dort ein. Doch erst am 31. Oktober 1627 wurden die Reliquien vom Dompropst und Domdechanten nach Paderborn gebracht. Am Westerntor wurde die Holzlade mit den Reliquien in Empfang genommen und in feierlicher Prozession von den Äbten von Abdinghof, Dal- heim, Hardehausen und Marienmünster in den Dom getragen. Hierzu hatte die Stadt eigens die Straßen reinigen und mit Tannen schmücken lassen. Auch ein Feuerwerk wurde gezündet. Doch noch fehlte der neue Schrein.

Die Stiftung und Schaffung des neuen Schreins

Landdrost Wilhelm von Westphalen, der sich von Anfang an Verdienste um die glückliche Wiedererlangung der Reliquien erworben hatte, und seine erste Frau Elisabeth von Loe gaben im Blick auf die Rückkehr der Reliquien spätestens 1625 beim Dringenberger Goldschmiedemeister Hans Krako die Anfertigung eines neuen Schreins in Auftrag. Leider geben die Quellen keine Auskunft über die Motive der Eheleute.

Der neu gefertigte Schrein konnte erst im Herbst 1628 von Dringenberger Schützen nach Schwaney geleitet und hier einem 60 Mann starken Kommando der Paderborner Schützen übergeben werden, die ihn nach Paderborn brachten. Diese Angabe ist der Paderborner Stadtrechnung des Jahres 1628 zu entnehmen. Hierzu passt eine Urkunde von 1656, die die erstmalige Einsetzung der Reliquien in den Schrein auf den 29. Oktober 1628 datiert. Dabei waren sein Schöpfer Meister Hans Krako und dessen Geselle Hans Cord Bentler anwesend. Aus dem pompös begangenen Tag der Rückkehr entwickelte sich das Fest der Rückführung der Reliquien des heiligen Liborius am letzten Sonntag im Oktober. Anknüpfend an die kirchliche Feier, etablierte sich auf Initiative der Paderborner Kaufleute ab 1929 die Herbstlibori-Kirmes.

Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Der Reichtum des Aufbaus

Der Aufbau des Schreins greift die Tradition mittelalterlicher Schreine auf und erinnert an einen Tempel. Der Kern besteht aus acht Zentimeter dickem Eichenholz und ist mit 246 einzelnen Silber- und Blech- teilen beschlagen, die feuervergoldet sind. Die Beschläge sind durch silberne Nägel am Holzkorpus der Truhe befestigt. Das Silbergewicht beträgt 56,64 kg bei einem derzeitigen Gesamtgewicht des Schreins von rund 190 kg ein- schließlich des 2010 erleichterten Tragegestells.

An der Stirnseite ist vor einem Torbogen die Kreuzigungsszene dargestellt. Im Zentrum des Giebelfeldes thront die Statue der Gottesmutter Maria mit dem Jesuskind. Die Geburt und der Tod Jesu sind der zentrale Verständnisschlüssel für alles, was am Schrein abgebildet und ausgesagt wird. Auf beiden Längsseiten stehen in Nischen die aus Bronze gegossenen und feuervergoldeten Statuet- ten der zwölf Apostel mit Büchern in den Händen. Sie sind die ersten Boten des Evangeliums. Auf den beiden Seiten des Satteldaches liegen in Längsrichtung Halbplastiken der beiden Schutzpatrone des Domes, Liborius und Kilian. Liborius trägt einen Bischofs- stab in seiner Rechten, ein geschlossenes Buch mit drei Steinen in seiner Linken. Kilian hält in der rechten Hand einen Palmzweig, der ihn als Märtyrer kennzeichnet, in seiner linken ein aufgeschlagenes Buch. Die Bücher erweisen beide als Verkünder des Evangeliums. Liborius und Kilian lassen Raum für jeweils zwei Rundmedaillons. Sie zeigen im Relief die vier lateinischen Kirchenväter Augustinus, Ambrosius, Gregor und Hieronymus, die Liborius und Kili- an als Lehrer des Glaubens in ihre Mitte nehmen. Den Dachfirst krönen die Figuren der Heiligen Sebastian, Erasmus von Antiochia, des Erzengels Michael sowie der Heiligen Georg und Laurentius. Sie spiegeln in geballter Form die Gewalterfahrungen der Entstehungszeit des Schreins. Die beiden Firstkreuze werden von Johannes dem Täufer und Franziskus von Assisi sowie den Patronen des Stifterpaares, Wilhelm von Aquitanien und Elisabeth von Thüringen, begleitet. Darunter sitzen die vier Evangelist Johannes, Lukas, Markus und Matthäus.

Der Dachkranz wird von zehn weiteren Heiligenstatuetten gesäumt. Vor dem Giebelfeld der Rückseite ragt die Figurengruppe der Krönung Mariens hervor. Möglicherweise wurde die Figurengruppe nachträglich vor das Giebelfeld gesetzt, denn sie verdeckt nahezu vollständig die Wappen des Stifterehepaares Wilhelm von Westphalen und Elisabeth von Loe. Ihre Namen werden in der großen Stifterinschrift genannt. Diese wird auf jeder Seite von vier Wappendarstellungen der Vorfahren des Stifterpaares gesäumt. Die Wappenreihen sind dem adeligen Stolz und Selbstbewusstsein des Stifterehepaares geschuldet.

Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Schrein und Pfauenwedel gehören untrennbar zusammen

Während der Prozessionen mit dem Schrein des heiligen Liborius wird diesem ein Pfauenschweif vorausgetragen. Ein Pfauenschweifträger wird erstmals 1483 in den Statuten der städtischen Verwaltung Paderborns schriftlich bezeugt. Der Brauch, dem Schrein einen Pfauenwedel voran- zutragen, ist aber weitaus älter. Möglicherweise lernte die Paderborner Delegation, die 836 die Gebeine des heiligen Liborius aus Le Mans holte, dort die Tradition eines Fächers aus Pfauen- federn kennen und brachte sie mit nach Paderborn. Nachdem der Pfauenfederschweif 1945 aufgrund der Bombenangriffe auf den Dom und die Stadt verbrannt war, trieb der Paderborner Goldschmied Joseph Fuchs 1948 erneut eine Halterung aus Silber, die der vorherigen gleicht. 1988 wurde der Pfauenschweif mit ca. 600 Pfauenfedern neu bestückt. Der Hohe Dom kann mit Stolz auf die nahezu 1200-jährige beständige Tradition der Nutzung des Pfauenwedels blicken, weil er die einzige Kirche des Abendlandes ist, in der solch ein Pfauenwedel in der Liturgie Verwendung findet.

Die Liborischreinträger

Das Tragen des Liborischreins während der Prozessionen stellt eine hohe Ehre dar. Seit 1897 tragen die 16 Liborischreinträger kostbare Gewänder. Je acht tragen den Schrein eine gewisse Strecke und wechseln sich danach mit den anderen ab. Sie verstehen ihren Einsatz zum Lobe Gottes und zur Ehre des heiligen Liborius als Dienst an der Gemeinschaft der Glaubenden.

Fortwährende Libori-Verehrung

Der Name „Libori“ steht heute zuallererst für das jährlich Ende Juli gefeierte zehntägige Liborifest, das den Pottmarkt rund um den Dom sowie die Kirmes auf dem Liboriberg und ein umfangreiches Kulturprogramm umfasst. Mit rund 1,5 Millionen Besucherinnen und Besuchern gehört „Libori“ zu den größten Volksfesten Deutschlands. In einer einzigartigen Mischung verknüpfen sich die kirchlichen Libori-Feiern, bei denen alle Augen auf den Schrein des Heiligen gerichtet sind, mit den weltlichen Vergnügungen und Geschäften.

Das Metropolitankapitel, das Erzbistum und die Stadt Paderborn sind zu Recht stolz auf den Li- borischrein. Seine bleibende Bedeutung bezieht er nicht allein und primär aus seinem Alter und seiner künstlerischen Qualität, sondern aus der Bestimmung, für die er gestiftet und geschaffen wurde: die Reliquien des heiligen Dom-, Bistums- und Stadtpatrons Liborius aufzunehmen und die Auferstehung der Glaubenden mit allen Heiligen des Himmels zu bezeugen.

0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anschauen