Die Hektik ausbremsen
Ab in den Urlaub: Zu Beginn der Sommerferien herrscht auf den Autobahnen extrem viel Verkehr. An der A2 lädt die Autobahnkapelle Hamm dazu ein, beim Zwischenstopp nicht nur den Benzintank zu füllen.
Die Sommerferien haben begonnen. Das bedeutet Autobahnstaus und Hochbetrieb auf Rastplätzen. Entsprechend viel ist an diesem Morgen auf dem Rasthof Rhynern an der A2 los. Zeit ist kostbar, das Reiseziel noch weit. Die meisten nutzen den Aufenthalt deshalb nur für das Nötigste: den Gang zur Toilette, Diesel oder Benzin für das Auto, für die Insassen ein Pausensnack aus dem Rasthof oder mitgebrachter Reiseproviant.
Einem Ehepaar dient die Motorhaube seines weißen BMW-SUV als improvisierter Tisch. Kaffee aus der Thermoskanne und belegte Brote sind schnell verzehrt. Nach zehn Minuten ist das Picknick an der Autobahn schon wieder beendet und es geht weiter.Picknick auf der Motorhaube, Fußball auf dem ParkplatzKinder quengeln – zu heiß, zu langweilig –, ein Fahrer sucht im überfüllten Gepäckabteil seines Kombis irgendetwas. „Ich weiß genau, dass ich es eingepackt habe“, ruft er seiner Frau zu. Die versucht gerade, eine Bananenschale und einen Pappbecher zu entsorgen. Doch die Chancen stehen schlecht, die Mülltonnen quellen über.
Kicken auf dem Parkplatz
Eine Gruppe junger Leute nutzt die Pause, die ihr Bus macht, um ein bisschen auf dem Parkplatz zu kicken. Keine gute Idee, findet offensichtlich ein Lkw-Fahrer, der die drei mit seiner Hupe von der Fahrbahn scheucht. Zwei Jugendliche haben sich auf den Weg gemacht, um das Gebäude am Ende des Rastplatzes genauer in Augenschein zu nehmen. Als sie das Schild „Autobahnkapelle“ lesen, stocken sie. Reingehen oder nicht? Sie entscheiden sich dagegen. Dass das Gebäude eine kirchliche Einrichtung beherbergt, ist abgesehen vom Schild direkt neben dem Eingang nur noch anhand einer Fahne mit der Aufschrift „Kapelle Rhynern“ zu erschließen. Doch die übersieht man trotz ihrer Größe schnell.
Ursprünglich hatte der massive Bau aus Bruchstein einen profaneren Zweck: 1939 wurde er als Tankstelle erstellt, das Spiegelbild findet sich auf der anderen Seite in Fahrtrichtung Hannover. Entworfen hatte den „Reichsautobahn-Rasthof Rhynern“ der Architekt Helmut Hentrich. Die Vorgaben waren damals eindeutig: Tankstellengebäude waren nun nach gestalterischen Vorgaben nicht mehr „modern“, sondern wegen der Landschaftseinbindung im „Heimatstil“ zu entwerfen. Das erklärt, dass die beiden Tankanlagen optisch eher einem rheinisch-westfälischen Bauernhaus ähneln.1990 erhielt die Anlage Denkmalschutz. Seit 2009 beherbergt die ehemalige Tankstelle in Fahrtrichtung Dortmund die „Ökumenische Autobahnkapelle“. Das Wortspiel vom „Auftanken für die Seele“ lag nahe und taucht hier in vielen Zusammenhängen auf.
Übrigens ist die Kapelle nicht die erste ökumenische Einrichtung für Reisende an diesem Ort: 1953 entstand dort die Autobahnmission. Zwei Fürsorgerinnen der Caritas und der Inneren Mission kümmerten sich damals um die zahlreichen, nicht gerade willkommenen Tramper an der Raststätte.Ein junger Mann verlässt die Kapelle gerade. Mit dem Kaffeebecher in der Hand und den Tätowierungen auf den Unterarmen sieht auch er nicht aus wie ein typischer Kirchgänger. Er lächelt und hält die Tür auf. Vielleicht war er es, der in dem „Anliegenbuch“, das aufgeschlagen neben dem Altar liegt, die letzte Eintragung gemacht hat. Um zu lesen, was er geschrieben hat, muss man allerdings Spanisch können.
Eine ganze Reihe der Texte ist in fremden Sprachen verfasst, einiges davon in Polnisch. Kein Wunder, auf der A2 als Ost-West-Verbindung sind viele Fernfahrer aus Osteuropa unterwegs. Einträge im „Anliegenbuch“in vielen SprachenBitten um Hilfe und Unterstützung – vieles dreht sich um Beistand: Oft geht es darum, das Reiseziel wohlbehalten zu erreichen. Auch Dankbarkeit kommt zum Ausdruck – manchmal nur in einem Wort. Doch hinter anderen Beiträgen lassen sich auch schwere Schicksale erahnen: Es geht um Krankheiten, zerrüttete Familien oder Todesfälle und damit verbunden immer wieder die Hoffnung: „Lieber Gott, lass alles gut ausgehen!“ Zwei Kerzen brennen, in einem Schriftenstand liegt das Neue Testament aus – unter anderem in Englisch, Polnisch und Spanisch.Ein Schritt aus der Tür, und der Alltag ist zurück – unüberseh- und vor allem unüberhörbar.
Möglichst wenig Pausen
Der Lärm der Fahrzeuge übertönt hier draußen alle anderen Geräusche, in der Kapelle war er auf ein Hintergrundrauschen reduziert. Möglichst wenige Pausen auf dem Weg in den UrlaubIn der Reihe der Lkw fallen drei Schwertransporter mit überbreiten Betonfertigteilen auf. Sie müssen tagsüber pausieren und dürfen erst in der Nacht weiterfahren, wenn weniger Verkehr herrscht. Auch zwei Fahrzeuge, die sie absichern, müssen hier warten. Die Fahrer unterhalten sich. Ein paar Worte lassen sich aufschnappen: Von „Amateuren“ ist die Rede, die die Lkw-Parkplätze blockieren. Gemeint ist wohl ein grauer Mercedes, der sich unter die „Brummis“ gemischt hat und der mehr Raum beansprucht, als er eigentlich braucht. Ein Fahrer regt sich besonders auf: „Wenn es in die Ferien geht, muten sich die Leute Etappen und Fahrzeiten zu, die für uns undenkbar wären“, meint er
Während die „Profis“ sich an die Lenk- und Ruhezeiten halten müssen, können alle anderen so lange hinter dem Steuer sitzen, wie sie wollen oder meinen zu können.Er scheint nicht ganz unrecht zu haben: Während die Lastwagen mindestens eine halbe Stunde stehen, fallen die Pausen bei den Urlaubern wesentlich kürzer aus. Doch daran werden weder das Angebot der Raststätte noch das der Autobahnkapelle etwas ändern. Inzwischen hat die Müllabfuhr ihre Runde über den Rastplatz gemacht. In den Tonnen, die gerade noch überquollen, ist wieder Platz. Die Reise kann weitergehen.
Hintergrund
„Bereits im Mittelalter wurden dem Wanderer, Pilger und Reisenden Andachtsmöglichkeiten in Form von Kapellen und Kreuzen am Wegesrand angeboten“, heißt es auf der Internetseite der Autobahnkirchen in Deutschland (www.autobanhkirche.de): „Sie dienten als Orte des Schutzgebetes und der Besinnung, und sie erinnerten die Menschen daran, sich auch auf Reisen immer wieder auf Gott zu besinnen.“ Dasselbe wollen die Autobahnkirchen heute bieten. Sie laden ein, zur Ruhe zu kommen, sich zu erholen und zu besinnen. Sie sind ein Gegenpol zum Leben auf der Überholspur, hier kann man Gott und sich selber finden. Rund eine Million Menschen besuchen jedes Jahr eine Autobahnkirche. Sie schätzen vor allem die Ruhe und die Anonymität. Viele von ihnen nutzen das „Anliegenbuch“, um ihre Gedanken festzuhalten, viele zünden eine Kerze an und geben eine Spende.