
„Die Zeit des Klein-Klein ist vorbei“
Eine Stadt mitten im Ruhrgebiet. Hier wurden drei Kirchen geschlossen, Katholiken sind eine Gruppe von vielen und werden weniger. Ist Kirche hier überhaupt noch sichtbar?
„Das dürfte einmalig sein.” Pfarrer Dr. Nils Petrat ist nur wenige Schritte vom Pfarrzentrum St. Dionysius entfernt. Hier, an der Bahnhofstraße in der Herner Innenstadt, ist Kirche tatsächlich sichtbar – und fällt auf. „Ein Kirchturm mit eigenem Schuhladen.” Das war das Konzept. Denn von der alten Kirche St. Bonifatius steht lediglich der Turm. Um ihn herum entstand ein moderneres Geschäftsgebäude, in dem unter anderem ein Fachgeschäft untergebracht ist. Seit sich dieses verkleinerte, stellt die Pfarrei ihre eigenen Banner aus.
Dreht man den Kopf, sieht man – nur wenige Hundert Meter entfernt – bereits den nächsten Kirchturm. Diesmal ist es ein evangelisches Gotteshaus. „Das ist typisch für Ruhrgebietsstädte. Viele Kirchen liegen dicht beieinander”, weiß Petrat. Und genau das ist das Problem. Zwar leben in Herne rund 20 000 Katholikinnen und Katholiken, was angesichts einer Gesamteinwohnerzahl von über 150 000 Menschen gar nicht schlecht klingt.
Doch der Pfarrer, der jetzt ein Jahr hier arbeitet, sieht es nüchtern. Nur etwa 3,5 Prozent gehen in Gottesdienste, und auch Anfeindungen gebe es, wenn man zum Beispiel gut sichtbar ein Kreuz trägt. „Wir sind eine kleine Gruppe von vielen.” Nils Petrat sagt das nüchtern, sachlich. Und ja, ohne Menschen, die Wurzeln in Polen oder Kroatien haben, wären die Gemeinden noch kleiner, die Kirchen noch leerer.

Wir gehen weiter Richtung Bahnhof. Ein Blick nach oben lohnt sich. Denn entlang der Einkaufsstraße stehen Altbauten mit durchaus ansehnlichen Fassaden. Geschäfte haben geöffnet, der Leerstand scheint recht gering zu sein. Doch irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass das Ganze seine besten Zeiten schon hinter sich hat. Hier ist das Schild einer Eisdiele verblasst, dort rostet ein Spielgerät. „Der Stadt fehlt das Geld”, so Petrat. Auch das ist keine Seltenheit im Ruhrgebiet.
Es geht vorbei am Busbahnhof, an dem mehrere Linien gleichzeitig ankommen. „Der ist schön geworden.” Und schon sieht man den nächsten Kirchturm – St. Marien in Herne-Baukau. Der Stadtteil dürfte Autofahrerinnen und -fahrern, die auf der A 42 unterwegs sind, gut bekannt sein – aus den Staumeldungen im Radio. Dennoch: Pfarrer Petrat sieht einen großen Vorteil darin, dass in der Großstadt die einzelnen Standorte gut zu erreichen sind. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man das im Sauerland gestalten kann.” Wenn ein pastoraler Raum aus 14 weit entfernt liegenden Gemeinden besteht – wie findet man beim Immobilienkonzept eine gerechte Lösung, welche Flächen aufgegeben werden?
In Herne hat man diese Lösung bereits gefunden. Drei Kirchen wurden profaniert, sieben Kirchorte bleiben erhalten. Dort drüben in Baukau wird das Gotteshaus zur Kinderkirche. Entsprechend werde der Kirchenraum ausgestattet. Die Liturgie soll zukünftig kindgerecht gestaltet sein, nicht unbedingt als Messe. Ferner werden demnächst Elterncafés sowie Beratungen etwa von Schwangeren angeboten. Solche Schwerpunktsetzungen seien wichtig, ist der Pfarrer überzeugt.

Und dann, vorbei an den typischen Reihenhäusern im Pott, geht es zur Kirche St. Elisabeth. Nils Petrat schließt die Tür auf. Von außen sieht das Gebäude aus wie eine Kirche und auch im Inneren denkt man: Hier hat am Sonntag noch eine Gemeinde die hl. Messe gefeiert. Der Pfarrer steht vor dem Altar, blickt zum Rosettenfenster hinauf. Nein, diese Kirche wurde profaniert, hier wird sich keine Gemeinde mehr treffen – auch wenn es sich noch immer so anfühlt.

„Der Denkmalschutz ist ein Problem“, betont Nils Petrat. Bei Kirchen aus den 1950er-Jahren sei das ein Automatismus, der die weitere Nutzung erschwert. „Es gab Anfragen aus Kroatien und Weißrussland wegen der Kirchenbänke.” Natürlich wäre das für die Pfarrei die beste Lösung. Wenn möglichst viele Gegenstände weiterhin in Kirchen genutzt würden, fiele der Abschied leichter. Da aber auch die Kirchenbänke unter Denkmalschutz stehen, ist der Verkauf schwierig.
Was also tun mit dem Standort, der längst ein Sanierungsfall ist? Die Gemäuer sind feucht, an einer Säule sind die blanken Steine zu sehen und die Apsis senkt sich. Auf der anderen Seite fehlen in Herne bezahlbare Wohnungen. Deshalb will ein Investor an anderer Stelle solche Wohnungen bauen, wo vorher ein Gotteshaus stand. Die Pfarrei sieht das als „eine Lösung mit Mehrwert“.
Für Pfarrer Petrat ist das ein überzeugendes Vorgehen, zumal auch die Elisabethkirche mitten in einem gewachsenen Wohngebiet steht. Doch bis es so weit ist, werden noch viele Verhandlungen mit der Stadt Herne anstehen. Die Pfarrei überlegt auch, die consolido GmbH aus Paderborn einzuschalten. Das Unternehmen des Erzbistums wurde eigens gegründet, um solche Immobilien auf den Markt zu bekommen.
„Jetzt gehen wir noch in den Keller. Dort gibt es etwas Kurioses.“ Der Geistliche hat nicht zu viel versprochen. Kaum geht man die schmale Treppe nach unten, steigt ein schon fast vergessener Geruch in die Nase – kalter Zigarettenrauch, wie er in den 1960er- und 1970er-Jahren zur Kneipe dazugehörte. Und tatsächlich erstreckt sich unter der Kirche ein großer Saal, ausgestattet mit Holztischen und -stühlen. Die Stereoanlage ist noch da, ebenso wie die Bar mit Zapfanlage. „Dort hinten gibt es sogar eine Kegelbahn.” Urig, zünftig – hier blieb die Zeit längst stehen.
„Ich frage mich immer, wie viele Menschen hier wohl gefeiert haben”, sagt Petrat nachdenklich. Wenn alle Plätze besetzt waren, muss die Stimmung unbeschreiblich gewesen sein. Doch das ist – ganz realistisch betrachtet – Schnee von gestern. „Wir hatten bereits diskutiert, ob wir an anderer Stelle ein Café betreiben können. Aber wie sollen wir das bespielen?“ Allein der Bedarf an Personal, das regelmäßig ehrenamtlich die Gäste bewirtet, ist hoch.

Dieses Kneipenidyll wird wohl oder übel verschwinden. Nils Petrat schließt wieder ab, es geht zurück zum Pfarrzentrum. Und jetzt? Die Stadt hat ihre Probleme, vor allem, was das Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen angeht. Auch Einsamkeit sei eine Herausforderung. Wie kann man gegensteuern?
Pfarrer Petrat, der im benachbarten Castrop-Rauxel aufwuchs und Herne als seine „Wunschstelle” bezeichnet, hat eine genaue Vorstellung. „Hier ist viel Potenzial”, betont er, „wir müssen unser Kerngeschäft gut machen.” Wenn die hl. Messe in der Osternacht mit 500 Gläubigen gefeiert wird, dann sei das so ein Schlüsselerlebnis. Auch eine würdevolle Bestattung sei wichtig. Dorthin kommen Menschen, die mit der Kirche nichts zu tun haben. Sie sollen den Glauben als etwas Positives wahrnehmen. Fest stehe aber auch: „Die Zeit des Klein-Klein ist vorbei“ – bei allem Verständnis dafür, dass der Glaube auch vor der eigenen Haustür verortet ist.
Wichtig ist es dem Geistlichen zudem, „die eigenen Leute zu stabilisieren“. Das geschehe beispielsweise durch spirituelle Angebote oder Gespräche in der Fastenzeit über das Glaubensbekenntnis. „Wir müssen auch die Gottesdienste so erlebbar machen, dass die Menschen gestärkt nach Hause gehen.” Der Glaube müsse ein sicheres Fundament werden. So stehen die Herner Katholiken zu ihrem Glauben, auch wenn es offene Anfeindungen geben sollte und die Gruppe kleiner wird. Denn auch in Herne sind die Austrittszahlen hoch. Ist dieser zeitaufwendige Prozess abgeschlossen, könne man als Kirche wieder mehr nach außen gehen. So weit sei man aktuell noch nicht. Doch die Weichen für die Zukunft sind gestellt.
Hintergrund
Die Pfarrei St. Dionysius liegt ganz im Westen des Erzbistums Paderborn und ist umringt von den Bistümern Münster und Essen. Dr. Nils Petrat, Jahrgang 1980, ist seit einem Jahr Pfarrer dort. Zuvor war er Dompastor sowie Studierendenpfarrer in Paderborn. Petrat geht davon aus, dass die Pfarrei im Laufe der kommenden Jahre weiter wächst und dann das gesamte Stadtgebiet sowie die Nachbarstadt Castrop-Rauxel umfasst. Sollte das so kommen, bleiben bereits gesetzte Schwerpunkte erhalten. „Wenn wir eine Kinderkirche haben, wird es in Castrop-Rauxel keine geben.“ Und umgekehrt werde in Herne nichts angeboten, was es bereits gibt.