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28.09.2024
Gemeindereferent Ulrich Martinschledde
Foto / Quelle: Karl-Martin Flüter

Ein Seismograf für die katholische Kirche

Der Gemeindereferent Ulrich Martinschledde hat fast sein ganzes Leben in der Diaspora gelebt und gearbeitet. „Ich bin ein Diasporakind“, sagt er von sich selbst.

Von Karl-Martin Flüter
Wittekindsland

Groß geworden ist er in der Bielefelder Stadtdiaspora. Die meisten seiner 32 Seelsorgerjahre hat er im Kreis Herford gearbeitet, in dem die evangelische Konfession weitaus größer ist als die katholische.

Im Alltag bedeutet Diaspora viel Fahrerei. Ulrich Martinschleddes Büro ist in Bünde, aber heute Nachmittag begleitet er eine ökumenische Beerdigung auf dem Erika-­Friedhof in Herford. Die Strecken sind weit im Pastoralen Raum Wittekindsland, der nahezu deckungsgleich mit dem Kreis Herford ist. Den Mittagstisch leitet der Gemeindereferent im Bünder Gemeindezentrum, die von ihm betreute ­e-­Kirche des Pastoralen Raumes, die zu Ausstellungen und Veranstaltungen einlädt, ist in der Herforder Kirche St. Paulus beheimatet. Drei Priester, drei Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten sowie zwei Diakone betreuen im Wittekindsland etwa 25 000 Kirchenmitglieder.

Junge Gemeinden

Die meisten katholischen Gemeinden im Pastoralen Raum Wittekindsland sind jung. Sie sind in den 1930er-­Jahren und vor allem nach dem Zweiten ­Weltkrieg entstanden, als Flüchtlinge und Vertriebene sich hier niederließen. Später kamen die „Gastarbeiter“ aus den katholischen Ländern Italien, Spanien oder Portugal, noch später Aussiedler und Zuwanderer aus Polen. Sie alle bilden oft Gemeinschaften, die sich erst nach zwei oder mehreren Generationen auflösen.Ein exklusives Verständnis des eigenen Glaubens ist eine Richtung, in die sich Kirchengemeinden in der Diaspora schnell entwickeln können, ist Ulrich Martinschledde überzeugt. In diesem Fall, so Ulrich Martinschledde, „versteht man seine Glaubens- und Konfessionsrichtung als identitätsstiftend, baut alle Rituale aus“ und versteht sich „als Vertreter des einzig wahren Glaubens“. Alle anderen gesellschaftlichen Einflüsse betrachte man als schädlich, eine Weiterentwicklung des religiösen Verständnisses oder andere konfessionelle Einflüsse würden infrage gestellt.

Die Alternative ist es, den Glauben als „spirituelle Heimat“ zu verstehen. Auch diese Einstellung ist in der Diaspora oft anzutreffen. Dieser zweite Weg ist die Voraussetzung für Ökumene. Die Offenheit ist deshalb unverzichtbar, denn als kleinerer Partner ist die katholische Kirche in der Diaspora auf eine funktionierende ökumenische Zusammenarbeit angewiesen. Allerdings, so Ulrich Martinschledde, drohe bei dieser Öffnung auch die Gefahr der „vollständigen Assimilation und der Verlust der Identität“.In welche Richtung die Entwicklung geht, immer ist Diaspora „ein Seismograf für die katholische Kirche in der säkularen Gesellschaft“, betont der Gemeindereferent. „Viele Entwicklungen sind dort früher und deutlicher spürbar als in den katholischen Gegenden.“

Eine Erkenntnis betrifft die Lern- und Wandlungsfähigkeit der katholischen Kirche. Die Bräuche, die die Zuwanderer mitbringen, werden oft eine Zeit lang gepflegt, bis sie ihre Bedeutung verlieren. Die Osterspeisensegnung kam mit polnischen Zuwanderern ins Wittekindsland. Jahrelang war die Segnung der Speisen, die zu Hause verzehrt werden, in vielen Gemeinden zu Ostern ein fester Teil der Liturgie. Heute ist diese Tradition fast vergessen. Selbst die Sternsinger, eine jahrzehntelange starke Tradition, sind seit Corona im Pastoralen Raum Wittekindsland kaum noch existent.

Fragile Struktur

Die vergleichsweise kleine Zahl der Kirchenmitglieder, ihre fragilere Struktur macht die Kirche in der Diaspora anfälliger. „Die verheerenden Abbrüche nach Corona spüren wir deutlich“, sagt Ulrich Martinschledde. Nicht nur die Sternsinger, auch „Messdienergruppen, Seniorenkreise und viele andere Gruppen sind verschwunden“. Das hat auch die Gemeinden in den katholischen Regionen des Erzbistums getroffen. In der Diaspora, in der die Angebote schon vor der Pandemie weniger und geografisch oft weit auseinander lagen, sind die Folgen weitreichender.Im Pastoralen Raum Wittekindsland haben Großeltern und Eltern der jetzigen Gemeindemitglieder in den 1950er-­Jahren nicht selten beim Bau des Gotteshauses mitgeholfen, als die plötzlich größer gewordenen Kirchengemeinden aus allen Nähten platzten.

iese Stein gewordene Geschichte zu verlieren, tut weh. Aber in der Diaspora ist es möglicherweise noch wichtiger als andernorts, Kirchenimmobilien aufzugeben. Nur ist der Schmerz größer, weil die Identität oft größer ist und die Infrastruktur noch stärker ausgedünnt wird. Der Weg zur nächsten Kirche, zum nächsten Gemeindezentrum wird weiter. Wenn neue Entwicklungen in der Diaspora früher kommen und intensiver ausfallen: Was kann die Kirche von der Diaspora lernen? „Am stabilsten erweisen sich auch in der Diaspora Projekte mit diakonischem Anteil, die sich als Dienst an der Gesellschaft verstehen“, meint Ulrich Martinschledde. Die Angebote der Kirche müssten grundsätzlich „glaubwürdig, aber nicht vereinnahmend“ sein: „Lieber ein guter Redner auf der Hochzeit oder Beerdigung als ein Priester mit leerem Ritual.“ Vor allem aber brauche die Diaspora so wie die Kirche überhaupt „immer wieder neue Menschen, die Spaß am Ausprobieren haben“.

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